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Literatur
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Figaros Leseecke
*** Figaros
Leseecke
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Begegnungen mit der
katalanischen Literatur
Die Literatur hat es Figaro
schon immer angetan. Ihrer Faszination hat er sich ein Leben lang
überlassen. Erst wurde sie bestimmend für die Wahl seiner Studienfächer,
in der Folge auch für seinen Beruf. Hatte er doch wegen Camus und Sartre
einst das Englische aufgegeben, wegen Diderot und Voltaire die
Sprachwissenschaft. Heute, nach Jahrzehnten des Umgangs mit Literatur von
Berufs wegen, weiß er, dass es keinen sichereren Zugang zu Land und
Leuten, zur Kultur eines Landes gibt. Wo auch könnte Sprache freier,
intimer sein als im imaginären Raum der Literatur? Im Worthülsenhandel der
Politiker, Ökonomen oder Experten etwa oder in der Alltagsrede – so
gestalt- und willenlos wie sie dort daherkommt? Erst in der Literatur
findet auch das Alltägliche, Flüchtige und Verborgene Anschauung und
Dauer. Zumindest für den, der sich Zeit nehmen kann. Für den wird
Literatur geradezu zum Wundermittel der Entschleunigung in der Hektik
unseres Lebens. Für Figaro war "das gute Buch" daher schon immer ein
Partner und Freund besonderer Art: stets zur Hand, wenn man ihn wirklich
braucht. |
Und gegenwärtig scheint es ihm wieder so weit.
Die Literatur soll Figaro einmal mehr helfen, einen Ausgang aus dem
Labyrinth seines Alltags auf der Insel zu finden, in die ihn der
Sprachenstreit tiefer, als er zugeben mag, gestürzt hat. Wie sehr hatte
sich der Nordländer über sein neues Leben in Artà gefreut! Soll er nun als
Freund des Spanischen sprachlos werden, sich gar als Paria für die Kultur
der Insel empfinden, ungleich gefährlicher als all die, die als Zugereiste
ungerührt ihre Muttersprache beibehalten? Oder doch für den Hausgebrauch –
wenn auch nicht im Vorbeigehen – katalanisch lernen, wo ihm doch auf
Spanisch leicht und lustvoll über die Lippen kommt, was auf Katalanisch
auf lange Zeit hin nur als mühseliges Stottern vernehmbar wäre? Lässt sich
ein freier Mensch ohne Not auf einen solchen Tausch ein? Schwerlich! |
In einem solch existentiellen Dilemma setzt Figaro
auf die Literatur, vertraut er auf ihre Kraft zum Königsweg. Warum sollten
katalanischsprachige Autorinnen und Autoren nicht schaffen, was alle Praktiken der
Diskriminierung nie vermöchten: die Liebe zur Sprache über Werke wecken,
auch wenn er diese – faute de mieux – zunächst nur in Übersetzungen auf
sich wirken lassen kann. Weiß er doch aus Erfahrung, dass die Erzählungen
und Romane der Janer Manila oder Mercè Rodoreda, der Antònia Oliver oder
Josep Pla auf Dauer verlässlichere Botschafter sind als alle
Parteitagsbeschlüsse und Verwaltungsrichtlinien der Welt. Und wenn es denn
am Ende – der fortgeschrittenen Jahre wegen – zu einem fließenden
Katalanisch nicht mehr reicht, so bleibt doch die Entdeckung eines
zauberhaften Gartens europäischer Literatur, an dem er beinahe achtlos
vorbeigegangen wäre. |
Figaro jedenfalls hat seine Wahl getroffen. Freudig
wird er sich auf diese neuerliche Entdeckungsreise begeben, sich auf seine
ganz persönlichen Begegnungen mit der katalanischen Literatur einlassen.
Wer mag, kann ihm hier dabei über die Schulter schauen
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Maria Barbal |
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Roman aus dem Katalanischen von Heike Nottebaum |
mit einem Nachwort von Joan Tous |
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Berlin: Transit 2008 (Diana
35246) 190 S. |
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In einem Gelände, dem die Flut der Bücher unablässig ein neues
Profil zu geben scheint, ist die Literaturkritik naturgemäß immer
ein wichtiger Wegweiser. Der Anspruch auf das eigene Urteil
jedenfalls entpuppt sich da nur allzu leicht als Mangel an
Belesenheit.
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Figaro, Novize im Umgang mit katalanischer Literatur, konnte diese
Erfahrung erst jüngst wieder machen. Wie hatte er sich gefreut,
Maria Barbals Erfolgsroman Pedra de tartera (1985) endlich
als Taschenbuch
preiswert auch auf Deutsch – Wie ein Stein im Geröll –
erwerben zu können. Denn Romane wie Auf der Plaça del Diamant
von Mercè Rodoreda oder von
Llorenç Villalonga Das Puppenkabinett des Senyor Bearn hatten
ihn auf die Spur dieser Erfolgsautorin gebracht, die 1949 in
einem Dorf in den Pyrenäen geboren wurde und aus Überzeugung von
allem Anfang an katalanisch geschrieben hat. Dass er indes mit
seiner „Entdeckung“ nicht allein stand, machte ihm gnadenlos ein
Aufkleber mitten auf dem Coverfoto bewusst, der, einem
Trichinenstempel im Schlachthof gleich, seine Ware als unbedenklich,
wo nicht gar als bekömmlich auswies: „Empfohlen von Elke Heidenreich
in Lesen!“ Was für eine Botschaft! |
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Auch
auf Figaro verfehlte sie ihre Wirkung nicht. Länger als es sonst seine Art
ist, hat er sich zunächst einmal über die vielen Empfehlungen gebeugt, ein
wenig gar im Internet recherchiert. Eine wahre Jubelarie, und so unisono!
Sollten etwa auch Literaturkritiker voneinander
... wissen? Figaro verwarf
diesen
frivolen Gedanken rasch
wieder. Dennoch hing er noch eine
Weile dem
Tenor der Urteile nach
... Das Bäuerliche und Einfache, eine Haltung des
Klaglosen-Auf-Sich-Nehmens wurde da hervorgehoben, ein entbehrungsreiches
Leben, das mit einem Mal so viel authentischer schien als die künstlichen
Glamourwelten des angeblichen Fortschritts im Norden. Geradeso als
präsentiere sich die vergessene Welt Kataloniens mit dieser leisen Stimme
als das Andere einer kränkelnden, an sich selbst zweifelnden Moderne. |
Figaro beschlich angesichts dieser Welle von Begeisterung das dumpfe
Gefühl eines Déjà-vu. Hatten nicht einst die deutschen Romantiker das
ferne Spanien als „schöne Wüste“ entdeckt, als Traumland ihrer
fortschrittsfeindlichen Phantasie gefeiert und lockt nicht die
Tourismusbranche bis heute mit dem Klischee eines „Spain is different“?
... Und nun also Katalonien? Ausgerechnet jenes eigentlich immer
schon Europa zugewandte Katalonien als das Andere, das uns Nordländern den
Spiegel des wirklich Wichtigen vorhält? |
Müßige Zweifel allemal, die Figaro angesichts des marktschreierischen
Gewerbes der Kritik da bewegten. Waren sie doch wie weggeblasen, als er
den Roman endlich aufschlug und zu lesen begann: |
"Man sah gleich, dass wir bei
uns daheim viele waren. Und eine schien man entbehren zu können." |
Figaro hielt begeistert inne. Was für ein Anfang! Umwerfend! Andere
Romananfänge kamen ihm in den Sinn: „Die heldenhafte Stadt hielt
Mittagsruhe.
...“ in Die Präsidentin von
Clarín oder jenes „Viele Jahre später..."
der Hundert Jahre Einsamkeit von García Márquez. Auch diesmal war
der Grundton des gesamten Buches mit dem ersten Satz bereits
unverwechselbar angeschlagen – nüchtern, unsentimental, realistisch hier –
, das Grundmuster dieses Lebensweges implizit vorgezeichnet, erkennbar
bereits als ach so unspektakulärer „Spannungsbogen“ eines namenlosen
Menschen, mit dem die Zeitläufe umgehen wie die Natur mit einem „Stein im
Geröll“. |
Aber doch zugleich auch wieder konkret genug, den Beginn dieses
Lebensweges in jenem Katalonien am Vorabend des Bürgerkrieges zu
situieren. Man braucht der Ich-Erzählerin nur zuzuhören: |
"Ich war die fünfte von sechs
Geschwistern, und auf die Welt bin ich gekommen, wie die Mutter sagte,
weil Gott es so gewollt hat, und was Er einem gibt, muss man annehmen." |
Wir wissen gleich, diese Welt
– kinderreich, katholisch, karg – ist nicht die unsere. Oder zumindest ist
sie es nicht mehr. Und doch glauben wir, sie zu kennen, bereit, uns gar
ein Stück weit mit ihr zu identifizieren. |
"Maria, das war die Älteste, kümmerte sich schon mehr um den Haushalt als
die Mutter selbst, Josef, der Erstgeborene, würde einmal alles erben, und
Joan ging aufs Priesterseminar. Von uns drei anderen, den Kleinen, habe
ich oftmals sagen hören, wir würden mehr Arbeit als Freude machen. Rosige
Zeiten waren das nicht." |
Großartig, wie diese gelassene Dramatik in der aufzählenden Vorstellung
der Familie von einem Gemeinplatz abgeschlossen wird, der jedes Pathos im
Keim erstickt. Auf Figaro wirkt diese sardonische Diskretion wie eine
unabweisliche Einladung, auf das fremde Leid genau hinzuschauen, sich
seiner eigenen Kindheit zu erinnern, sich gar zu solidarisieren mit den
Schicksalen einer Welt, die vergangen, die untergegangen ist – auch in
Katalonien. |
Trauer müssen wir darum nicht empfinden. Wohl aber Dankbarkeit für dieses
überzeugende literarische Zeugnis einer Welt, die hoffentlich so bald
nicht mehr die unsere ist – nirgendwo auf der Welt. Zumindest wenn wir uns
die Zeit nehmen, der Protagonistin zuzuhören, jener bescheiden unbeugsamen
Conxa, die das Leben gelehrt hat, zu leiden, ohne zu klagen und dabei das
Leben dennoch dankbar anzunehmen. |
Figaro jedenfalls fühlt sich eigenartig gestärkt, als er Stunden später
das Buch wieder aus der Hand legt.
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Erzählungen aus dem Katalanischen von Elisabeth Brilke |
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Frankfurt a. M.:
Suhrkamp 2003 (st 3525) 108 S. |
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Den 2003 als Suhrkamp Taschenbuch auf Deutsch neu verlegten Titel
hatte Figaro im Internet bestellt und nicht, wie es seine Gewohnheit
ist, ihn zuvor in einer Buchhandlung erst einmal angelesen, so wie
ein Weinkenner den ihm angepriesenen Tropfen vor dem Kauf genüsslich
verkostet. Denn der Name des preisgekrönten Erfolgsautors war ihm
wegen dessen Absage zur Teilnahme an der Buchmesse in Frankfurt in
Erinnerung geblieben, die 2007 die Literatur Kataloniens zum
Schwerpunktthema gekürt hatte. „Illegal“ war Sergi Pàmies damals die
einseitige Fixierung auf das Katalanische erschienen,
diskriminierend auch für die spanisch schreibenden Schriftsteller
Kataloniens. In den Augen Figaros eine löbliche Geste gegen die
politische Instrumentalisierung der Literatur. Gibt es doch
angepasste Intellektuelle in unserer Expertenkultur satt und genug! |
Als er das 1997 im Original erschienene Buch tags darauf in der Hand
hielt, erkannte er unschwer das ironische Spiel mit der
Titelerwartung. Denn Der große Roman über Barcelona war weder
groß noch ein Roman, und der Schauplatz Barcelona war ohne
Lokalkolorit kaum erkennbar, eher eine Metropole, die wir in der
globalisierten Gegenwart überall antreffen können, wie auch die
Handlungsmuster dieser Erzählungen mit ihren namenlosen
Zeitgenossen. |
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Ein witziges und doch
gnadenlos ernüchterndes Portrait unserer Tage entsteht so, ein offenes
Portrait zudem, das sich mit seinen zahllosen Fragmenten immer neu
fortschreibt. Und vorgestellt wird das alles mit der Virtuosität eines
Meisters der grotesken Komik, gleichsam eines Buster Keaton der Literatur
mit Tiefgang. |
Eine
Anekdote nur zum Beleg. Sie ist der längsten der 15 Erzählungen des Bandes
entnommen und ihr Titel La gran novel·la de Barcelona hat auch der
ganzen Sammlung den Namen gegeben. Auf den ersten Blick könnte sich die
Geschichte, die sie skizziert, an vielen Orten der Welt zugetragen haben.
Doch lesen Sie selbst! |
„Die junge Frau lernte ihren
Mann in der Nähe eines Kastells kennen, das auf der Spitze eines Berges
steht, und zwar genau an der Stelle, wo er später erschossen wurde.“ |
Mit einer einfachen
Vorausdeutung umschließt dieser Eröffnungssatz Anfang und Ende des
Lebensglücks unserer namenlosen Heldin, nicht jedoch das Ende ihres
Leidens. |
„Nachdem Jahre danach ein
langer Prozess bürokratischer Erniedrigung überstanden war, wurde ihr ein
Grab (die echten Gebeine lagen im Massengrab) in einer Ecke des Friedhofs
zuerkannt, nur wenige Meter vom Tatort entfernt.“ |
Nach der widerrechtlichen
Erschießung folgt also der zermürbende, lebenslange Kampf um
Rehabilitierung des Ermordeten, ein Kampf, der bis heute ohne
befriedigendes Ergebnis bleiben sollte. |
„Die junge Frau, die
inzwischen eine Greisin mit zwei Sparbüchern und Krampfadern ist, steigt
ab und zu hinauf, um sozusagen die Landschaft zu betrachten. Die drei
Schornsteine im Vordergrund. Dahinter nur Nebel. Alterskurzsichtigkeit
stellte der Arzt fest.“ |
So
einfach kann das Unerklärliche sein: kreatürlicher Verfall als Erklärung
ihrer Leiden. Doch so viel weiße Salbe gegen Verbrechen und kollektives
Versagen reizt sie denn doch zum Widerspruch, diskret unterstützt von der
Erzählerstimme. |
„Nicht nur das Alter, ich habe genug, widersprach sie. Genug davon, die
Haustür mit der von nebenan zu verwechseln, die Fünfpesetenstücke mit den
Fünfundzwanzigern. Genug davon, sich die Fotografie dicht vor die Nase
halten zu müssen, um den Mann zu erkennen, der sie vor langer Zeit ganz in
der Nähe des Ortes verführte, an dem jetzt der Sportpalast steht, der von
einem Japaner gestaltet wurde.“ |
Diese ohnmächtige Geste des Protestes, die der Erzähler über den Moment
hinaus verlängert, beschließt unsere Anekdote. Eine Lebensgeschichte im
Zeitraffer und im Kern – Gott sei’s geklagt – eine Allerweltsgeschichte.
Und doch auch unverwechselbar angesiedelt im Barcelona der zurückliegenden
sieben Jahrzehnte. Ein Zeitraum also erlebter Zeitgeschichte für den
Katalanen und Spanier, der sich auskennt und der bereit ist, sich zu
erinnern: an die Erschießungskommandos am Kastell auf dem Montjuic zur
Zeit des Bürgerkrieges, an den Staatsterror der Franco-Diktatur, der
politisch Andersdenkende bis weit in die sechziger Jahre des 20.
Jahrhunderts verfolgen, ausrotten und in Massengräbern verscharren ließ,
Gräueltaten, die zu verdrängen das demokratische Spanien lange fest
entschlossen schien, berauscht vom Wirtschaftswunder und geblendet vom
Glanz internationaler Anerkennung wie zur Zeit der Olympischen Spiele.
Spanien – Katalonien zumal – war zurück im Kreis der führenden Nationen in
der Welt! Wer mochte da schon der ungezählten Opfer gedenken? Politik,
Presse und Massenmedien jedenfalls nicht! Bevor der Skandal der
Verdrängung dort in diesen Tagen endlich zum Thema wird, hatten Literaten
lange zuvor in einem breiten Strom literarischer Reflexion von den
„Identitätszeichen“ (!966) eines Juan Goytisolo bis zum „Langen
Marsch“ (1996) eines Rafael Chirbes wider den Stachel dieses politischen
Konsenses gelöckt. Kein schlechter Kontext zur Bewertung unserer Anekdote
in den Augen Figaros. Auch wenn die Stimme von Sergi Pàmies so
unverwechselbar anders klingt als die seiner Vorgänger. |
In der Tat, wie grandios lakonisch der Ton, frei von Pathos und
Sentimentalität! Alles hier ist Diskrepanz: das raffende Erzählen steht
zum Unfassbaren des Erzählten – Erschießungen, Massengräber, Verdrängen –
in ebenso krassem Widerspruch wie die Reduktion des langen seelischen
Leidens auf wenige körperliche Leiden – Krampfadern und
Alterskurzsichtigkeit. Es ist die Kunst des Absurden. Bringt doch gerade
eine solche Karikatur des namenlosen individuellen Leidens allererst vor
den Blick, was im Horizont des rasanten Wandels einer Metropole nur allzu
leicht in Vergessenheit gerät. Macht der grotesken Komik halt, die
erheitert, bevor sie nachdenklich stimmt. |
Figaro jedenfalls hat diese Anekdote auf die weiteren Erzählbände dieses
Nonkonformisten neugierig gemacht. Signalisieren doch Titel wie Du
solltest dich in Grund und Boden schämen (2001) oder Wie man in
eine Zitrone beißt, ohne das Gesicht zu verziehen (2008) jenen
grotesken Zuschnitt unserer Gegenwart, den er im Großen Roman über
Barcelona schätzen gelernt hat. |
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- Die Stimmen des Flusses - |
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Roman aus dem
Katalanischen von Kirsten Brandt |
Frankfurt a. M.:
Suhrkamp 2008 |
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667 Seiten und das einmal mehr über eine
Geschichte aus den Tagen des spanischen Bürgerkriegs und der
Diktatur? Figaro hob unwillkürlich die Augenbrauen – ars longa, vita
brevis… Doch die anfänglichen
Zweifel waren schnell verflogen. Nun, nach wenigen Monaten, hat
Figaro den zeitgeschichtlichen Roman dieses vielfach ausgezeichneten
Schriftstellers, Journalisten und Drehbuchautors aus freien Stücken
bereits ein zweites Mal gelesen. Und er fühlt sich reich belohnt. |
Es ist in der Tat eine atemberaubende
Geschichte, die gleichwohl zum Nachdenken einlädt – über die
vielfältigen Verdrängungen und Verstellungen der Ermordung eines
Dorfschullehrers in den ersten Jahren der franquistischen Diktatur
in einem abgelegenen Bergdorf in den Pyrenäen Kataloniens. Denn so
spannend sich die Suche danach auch gestaltet, was in jener
Mordnacht des 17. Oktober 1944 in der Dorfkirche wirklich geschehen
ist, so abenteuerlich legen sich gegenläufige Instrumentalisierungen
dieses Todes wie ein undurchdringlicher Schleier über jene
menschenverachtende Tat. |
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War der Tod von Oriol
Fontelles Ausdruck der mutigen Tat eines Helden des Vaterlandes, wie sie
die Blauhemden der Falange sehen wollen, oder im Gegenteil Ausdruck eines
selbstlosen Aktes des Widerstandes gegen Franco und dessen Rückeroberung
Kataloniens, jenes berüchtigten „Ha llegado España", wie die „Roten", die
Kämpfer des Maquis und der Internationale gegen den Faschismus in Europa,
im Untergrund verbreiten lassen? "Weder – noch", verkündet die Kirche, die
stattdessen den Namenlosen nahezu sechs Jahrzehnte später als
wundertätigen Märtyrer ehren lässt – auf Betreiben von Elisenda Vilabrù,
der heimlichen Geliebten des Toten und der ungekrönten Herrscherin der
Region. Vielleicht liegt die Wahrheit aber auch auf einer eher privat
alltäglichen Ebene, ist das Geschehen Ausdruck einer den politischen
Wirren geschuldeten Verzweiflungstat eines Mitläufers wider Willen, der
sich mit seiner Wandlung vom Faschisten zum Widerstandskämpfer von seiner
eigenen Feigheit zu distanzieren sucht, um posthum in den Augen seiner
Familie bestehen zu können. Diese Sicht wird zumindest durch den
Zufallsfund seines langen Abschiedsbriefes an seine noch ungeborene
Tochter nahe gelegt, den eine Gymnasiallehrerin und Journalistin, die an
einem Projekt über den Wandel des Schulbuches von 1940 bis 2002 arbeitet,
in einer hinter der Wandtafel verborgenen Zigarrenkiste just in dem
Augenblick findet, als die alte Dorfschule in Torena abgerissen wird und
die Kurie in Rom ihre Opfer des Spanischen Bürgerkrieges als Märtyrer zu
ehren beginnt. |
Angesiedelt ist das lange tief verdrängte Geschehen in einem
Schreckensdorf, wo hinter der beschaulichen Idylle der unversöhnliche Hass
der Generationen an den Fassaden der Häuser klebt und von wo eine
unwiderstehliche, aber eiskalte Kazikin – eine „Doña Perfecta" des 20.
Jahrhunderts – unerbittlich und über den Wechsel der politischen Systeme
hinweg alle Fäden der Macht im Lande zieht. Ein fiktiver, gleichwohl
emblematischer Ort, denn Torena ist – in Katalonien, ist in Spanien –
überall. |
Unterstützt wird dieser
Eindruck, weil das Geschehen gleichsam als mise-en-abîme inszeniert
wird, nicht linear, sondern durch unablässige Wiederaufnahmen, durch
rasche filmische Überblendungen der Zeitebenen, Schauplätze und
Perspektiven zirkular erzählt. So entsteht eine temporeiche, gleichsam
kriminalistische Suche voller witzig grotesker wie ernster und lyrischer
Momente. Ein barockes Universum, in dem nichts ist, was es scheint, am
wenigsten die Liebe und der Tod. Ein tragikomisches Epos wider das
Vergessen, ohne die übliche Selbstgefälligkeit der Ankläger, die
Verstocktheit der Unbelehrbaren oder den naiven Idealismus der
Gutmenschen, zu sehr scheinen Heuchelei und Lüge hier als Quellgrund
gesellschaftlichen Versagens allgegenwärtig – damals wie heute. Eine
Satire mithin ohne den faden Triumphalismus eines „Nie wieder … !"
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Wer hier mit Würde aussteigt,
tut es stoisch und still wie Rosa, die schwangere Frau des
Dorfschullehrers, die den feigen Opportunismus ihres Mannes nicht mehr
erträgt und lieber einer ungewissen Zukunft entgegengeht. |
„Rosa verließ Torena am Tag
vor Weihnachten, dem Tag, an dem Ventureta [die von „Henker von Torena"
erschossene vierzehnjährige Geißel] zu Grabe getragen wurde, als alle bei
der Arbeit waren und Oriol in Sort an einer Konferenz aller Lehrer der
umliegenden Täler teilnahm, einberufen vom Abgeordneten der Falange
Española, der sie überreden wollte, der Falange beizutreten, und zwar
geschlossen, Kameraden. Rosa ging wie ein Flüchtling, ohne jemandem
Bescheid zu sagen. Sie wusste, dass sie außer ihrem Korb und ihrem vollen
Koffer alle Illusionen mitnahm, all ihre Vorstellungen davon, wie schön es
hätte sein können. Sie tat es, weil sie eine starke Frau war und nicht
wollte, dass ihr Kind neben einem Faschisten aufwuchs. All ihre Hoffnungen
trug sie in ihrem Bauch." |
Ein starker Protest, den die
Gleichgültigkeit der Zeitgenossen gleichwohl in einen ohnmächtigen
Verlierergestus verwandelt. Dass er dennoch weit reichende Folgen hat,
liegt an der unterschwelligen tragischen Ironie dieser Erzählung selbst:
Denn das Kind in ihrem Bauch wird nach der heimlichen Zwangsadoption durch
Elisenda als skrupelloser Geschäftsmann sowohl die Träume seiner
leiblichen Eltern auf Rehabilitation als auch die Machtträume seiner
Adoptivmutter durchkreuzen. Und so entlässt uns der Roman mit einem
melancholischen Quo vadis, mundus? Oder in den letzten Worten des
alten Steinmetzen aus Torena: „Man weiß nie, wo das Unglück endet."
Zumindest solange die Menschen ihr Leben unter Lüge und Heuchelei
begraben. |
Kein Zweifel: gerade die
wiederholte Lektüre dieses 2004 unter dem Titel Veus del Pamano
veröffentlichten Romans, an dem der 1947 in Barcelona geborene Autor nach
eigenen Angaben sieben Jahre gearbeitet hat, lohnt. Und wäre Figaro des
Katalanischen mächtiger, er würde ohne zu zögern sofort weitere Werke wie
L’ombra de l’eunuc (1996) oder Viatge d’hivern (2000) auf
seine Liste setzen, ohne erst noch lange auf die löblichen
Vermittlerdienste einer Übersetzerin wie Kirsten Brandt zu warten.
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Roman aus dem Katalanischen von Volker Glab |
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Moos & Baden-Baden: Elster 1991,
331 S. |
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Zugegeben: dieses Buch hat Figaro überhaupt
nur in die Hand genommen, weil sein Titel El temps de les cireres
ihm unwillkürlich die Erinnerung an den Chansonnier Yves Montand
zurückbrachte, für den er als Student in Frankreich einst geschwärmt
hatte. Dessen sinnlich melancholischer Vortrag jenes Liedes Le
temps des cérises von Jean Baptiste Clément, eines Dichters aus
den Tagen der Pariser Kommune, ließ ihn damals wohlig vage vom
Anbruch einer glücklichen, angstfreien Zeit träumen. Dass dieses
Lied aber zur gleichen Zeit für die Studenten in Barcelona, die in
Protesten gegen die franquistische Repression ihre Karriere und ihre
Gesundheit aufs Spiel setzten, zur konkreten Utopie werden konnte,
hat ihm erst dieser zeitgeschichtliche Roman aus dem Jahre 1977 von
Montserrat Roig offenbart. |
Von dieser in den siebziger und achtziger Jahren in Katalonien und
landesweit aus Presse und Fernsehen bis zu ihrem frühen Tode 1991
sehr bekannten Journalistin und Schriftstellerin hatte er nie zuvor
auch nur eine Zeile gelesen, weder ihre mutigen Reportagen und
Interviews – Els catalans als camps nazis (1977) etwa – noch
ihre zeitkritischen Romane. Und die Veröffentlichung der Zeit der
Kirschen 1991 in einem kleinen Verlag für Frauenliteratur war
für Figaro lange Zeit auch nicht gerade eine ausgesprochene
Empfehlung. Stolz ist er auf so viel Ignoranz freilich nicht. |
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In
gewisser Weise eröffnet die 1946 geborene Montserrat Roig den Reigen jenes
neuen Typs von Autorinnen, die nicht zuletzt publizistisch sehr
erfolgreich sind wie Esther Tusquets, Carme Riera, Maruja Torres… Mit
ihnen rückt vor allem das Thema der in der Liebe frustrierten Frau mit
allen seinen Spielarten in den Mittelpunkt. Die gesellschaftliche
Benachteiligung der Frau, die ja bereits seit den Tagen des Realismus
angesagt ist und zuletzt in den Romanen von Maria Barbal und Mercè
Rodoreda ihren sozial denunziatorischen Niederschlag gefunden hatte,
erhält hier nun mit der prononzierten Opferrolle gegenüber dem Mann
gleichsam ihren frühen feministischen Einschlag. |
Bei Montserrat Roig findet
diese allgemeine Klage auch einen konkreten Adressaten: die
katholische Erziehung, in Sonderheit die Klosterschule. In den
traumatischen Erinnerungen ihrer Protagonistinnen erscheint sie nicht nur
als Quellgrund lebensfeindlicher Verklemmungen, sondern auch als Hort
einer perfiden binnenspanischen Kolonialisierung: Mit dem Schüren einer
allgegenwärtigen Angst vor der Sünde, verbunden mit Drohungen wie “Sprich
christliches Spanisch und nicht dieses teuflische Katalanisch, du böses,
böses Mädchen“, wurden diese Töchter der Mittelschicht geradezu
systematisch ihres Körpers und ihrer Kultur entfremdet. |
Aber auch ihre Väter verloren
hier mit dem Einmarsch der Franquisten ihre Identität. Wer wie Joan
Miralpeix, der in seiner Jugend mit der Linken sympathisiert hatte, drei
Jahre das Konzentrationslager von Betanzos überlebt, spricht fortan
die Sprache der Sieger oder wird gemütskrank. |
"Calia
deixar ben endarrera els aires que els havien dut tantes desgràcies. Calia
regirar el pensament, calia commençar
a parlar d’una altra manera, vestir-se com ells volien, tancar-se a casa,
dormir,
fer-hi una llarga i compacta dormida, calia no sortir al carrer, perquè el
carrer era d’ells – l’única
revenja possible: fer diners […]." |
(Es kam darauf an, das Klima
weit hinter sich zu lassen, das ihnen soviel Unglück gebracht hatte. Es
kam darauf an, das Denken umzukrempeln, man musste auf eine andere Art und
Weise reden, sich kleiden, wie sie es wollten, sich zu Hause einschließen,
schlafen, in einen langen, festen Schlaf versinken, lieber nicht auf die
Straße gehen, denn die Straße gehörte ihnen – die einzige mögliche Rache:
Geld machen […].) |
Schweigen, um zu überleben,
Geld scheffeln, um zu vergessen – für Joan Miralpeix aus Eixample, dem
Viertel des wohlsituierten Bürgertums in Barcelona wird diese traurige
Maxime zur tödlichen Falle. Je länger der Tod Francos auf sich warten
lässt, umso mehr entgleitet dem Baulöwen seine Familie, werden aus Liebe
Gleichgültigkeit, Angst und Hass. |
Seine Tochter Natàlia, die Protagonistin des Romans, wird Opfer und Zeugin
dieses langsamen Selbst-zerstörungsprozesses des katalanischen Bürgertums.
Aus Wut über die Niederschlagung der Studentenproteste in Barcelona und
aus Angst, der eigene Vater könne ihre illegale Abtreibung der Polizei zur
Anzeige bringen, hatte sie 1962 das Land verlassen, das Jahr, in dem die
Diktatur mit der blutigen Niederschlagung des Bergarbeiterstreiks in
Asturien und der Hinrichtung des Kommunistenführers Grimau dem
demokratischen Europa seine Entschlossenheit zur Repression demonstierte.
Als sie es 1974 wieder betritt, steht das Land noch unter dem Schock des
wenige Tage zuvor unter den flammenden Protesten des Auslandes
garottierten Anarchisten Puig Antich. Für Natàlia ist diese Nachricht das
traurige Signal über zwölf weitere Jahre Stillstand, Korruption,
Grabesruhe, zwölf Jahre, in denen hinter der Fassade wachsenden
Wohlstandes der moralische Verfall ihres Landes unaufhaltsam
fortgeschritten ist. Ihre eigene Familie, deren Mitglieder sie in den
sechs Kapiteln des Buches nacheinander vorstellt, bieten ihr diese
traurige Gewissheit: eine erschreckende, tragikomische
Orientierungslosigkeit allenthalben, ein morscher Stamm, an dem die
Wurzeln der eigenen Kultur gründlich verdorrt sind und dem die wabernden
Mythen westlichen Konsums nicht wirklich eine neue Blüte verheißen. Kein
gutes Omen für eine neue Zeit der Kirschen – auch nach dem Abgang des
Diktators nicht. |
Eine
ernüchternde, eine bedenkenswerte Bilanz dieser feministischen
Katalanistin, die ihr gleichwohl noch im Jahr des Erscheinens den
angesehenen Sant Jordi Preis eingetragen hat. Angekündigt hatte sie sich
bereits 1972 in dem Roman Ramona, adéu. Sie setzt sich nach El
temps de les cireres 1980 mit L’hora violeta fort. Alle drei
bilden eine lockere Trilogie, eine Art Familiensaga in Form eines
Nebeneinanders von Lebensläufen, ein lebendiges Mosaik der katalanischen
Mittelschicht. Gewiss, die Miralpeix mögen in der Phantasie ihrer Leser
nicht die poetische Kraft der Buendías oder Buddenbrocks entfalten, aber
eine unterhaltsame Lehrstunde zum besseren Verständnis des heutigen
Katalonien sind sie allemal. Und noch sind die Übersetzungen ihrer Romane
preiswert in Restposten im Internet zu beziehen. |
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Pollença: El Gall Editor 2004 (Clàssics
del Gall1) 161 S. |
Nach
so viel
Vergangenheitsbewältigung auf
Katalanisch
–
will sagen in den
unterschiedlichen
Modi
der
Ironie
– in der zeitgenössischen Erzählliteratur stand Figaro der Sinn
nach mehr Eigentlichkeit der Rede. Zugetragen hat sie ihm der Zufall eines
Ausflugs nach Randa.
Dort in der
Einsamkeit jener Berglandschaft hatte einst Ramón Llull Jahre seines
Lebens verbracht, jener Gelehrte, dessen Ruf als Theologe, Philosoph und
Dichter im Mittelalter ganz Europa überstrahlte und in dem die kulturellen
und politischen Eliten des katalanischen Sprachraums gerade heutzutage
wieder eine identitätsstiftende Lichtgestalt erblicken, vergleichbar einem
Dante in Italien. |
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In der Buchauslage des kleinen Souvenirladens
im dortigen Ramón Llull-Museum war ihm jenes schmucklose Büchlein
aus der Reihe Clàssics del Gall in die Hände gefallen, dessen
Titel – Llibre d’Amic i Amat – gleichwohl nichts Geringeres
als eine Perle europäischer Lyrik verspricht. |
In der Tat steht dieses "Buch vom Freund und
dem Geliebten“ aus dem 13. Jahrhundert als früher Gipfelpunkt
europäischer Mystik in unserem kulturellen Gedächtnis,
ferner
Wegbereiter auch der glänzenden asketischen Literatur einer
Teresa von Ávila oder eines Fray Luis de León im 16. Jahrhundert. Es
ist eine Sammlung einfühlsamer Aphorismen – 366 an der Zahl – ,
angesiedelt zwischen dem Hohen Lied und der Spruchdichtung
der mohammedanischen Sufis. Diese Strophen besingen das Sehnen des
Menschen nach Vereinigung mit seinem Gott, zeugen vom
schmerzlich-beglückenden Doppelcharakter dieses Verlangens, von
jener brennenden Sehnsucht mithin, die das Leben gleichermaßen
ernährt wie verzehrt. |
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An jenem Frühlingstag im Winter klang besonders der nachstehende
Aphorismus jener offenen Zwiesprache zwischen dem Schöpfer und seinem
Geschöpf noch lange in Figaro nach:
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Der Vogel sang auf
einem Zweig
mit Blättern
und Blüten,
und der Wind wiegte die Blätter
und brachte den Duft der Blüten.
Der Freund fragte den Vogel,
was die Bewegung der Blätter
und der Duft der Blüten bedeuten.
Er antwortete: "Die Blätter
bedeuten
in ihren Bewegungen Gehorsam
und der Duft Leid und Ungemach." |
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Gedicht 58 -
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Als
Figaro Stunden später immer noch gedankenverloren den Berg wieder
hinabfuhr, fielen ihm die vorlauten Stimmen jener ins Rampenlicht
drängender Zeitgenossen ein, die sich im unseligen Sprachenstreit auf der
Insel mit der wohlfeilen Ansicht zu Wort melden, das Katalanische sei doch
nur ein dialektaler Ableger der Kultursprache Spanisch. „Da sei doch der
Mallorquiner Ramón Llull vor!“ Doch anstatt sich ungehalten über so
viel Ignoranz zu ärgern, zog Figaro es vor, still vor sich hin zu lächeln
... |
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und vierzehn weitere Erzählungen aus dem
Katalanischen |
Ausgewählt und aus dem
Katalanischen übertragen von Angelika Maas |
Frankfurt
a. M.: Vervuert 1988, 156 S. |
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Ein wenig verwundert hatte er den
Band in der Badetasche der Familie gefunden. Aber hier in der Bucht
von Canyamel im Schatten der Tamarisken kam er ihm sehr zu pass. Der
Hardcover-Einband widerstand der leichten Brise ungleich besser als
die Tageszeitung. Und für einen dicken Wälzer war die Umgebung viel
zu spannend. Diese Sammlung von kurzen Geschichten indes fügte sich
hervorragend in den Rhythmus der kleinen Unterbrechungen am Strand,
der willkommenen wie der ungebetenen gleichermaßen.
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Geradezu ein ideales Ambiente für
eine abwechslungsreiche, unterhaltsame Lektüre über Liebe und Meer,
Einsamkeit und Tod
–
ein bunter Bilderbogen vertrauter
Erfahrungen halt, in freilich ungewöhnlichen Situationen des Lebens:
ein Tier als Substitut menschlicher Nähe in der Einöde einer
heruntergewirtschafteten Region (Das Huhn von Mercè Rodoreda);
nordisch lange Frauenbeine im Zugabteil als rotes Tuch für
mediterranes Männerblut (Die Lachsdame von Quim Monzò); das
Meer als Leichentuch einer uneinlösbaren Liebe (Und lass als
Pfand, mein Liebling, Dir das Meer von Carme Riera)
...
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Und laß als Pfand, mein Liebling, Dir das Meer
...
Diese ungemein appellative Apostrophe gibt dieser Sammlung
katalanischer Kurzgeschichten
– 15 an
der Zahl –
auch insgesamt ihren Titel. Sie umspannen den Zeitraum vom Ende des
Bürgerkriegs bis zum Beginn der Demokratie und entstammen der Feder von 11
Erzählerinnen und Erzählern aus drei unterschiedlichen Generationen: die
"Generation der Republik" ist hier mit LLorenç
Villalonga (1897 - 1980) und Mercè Rodoreda (1909 - 1983), Pere Calders
(1912 - 1994 ) und Salvador Espriu (1913-1985) vertreten, die "der 50er
Jahre", die den Bürgerkrieg in ihrer Jugend oder als Kind erlebten,
mit Maria Aurèlia Capmany (1918 - 1991), Manuel de Pedrolo (1918 - 1990),
Joan Perucho (1920 - 2003) sowie mit Miquel Àngel Riera (1930 - 1996) und
Baltasar Porcel (1937 - 2009), während für die "Generation der 70er
Jahre", der letzten inzwischen bereits akzeptierten Gruppe, Carme Riera
(1948) und Quim Monzò (1952) stehen. |
Ein erstaunlich guter
Fächer über drei Generationen der katalanischen Gegenwartsliteratur. Denn
viele der hier Ausgewählten, die zum Zeitpunkt des Erscheinens dieser
Anthologie dem deutschen Leser noch unzugänglich waren, haben inzwischen
auch im deutschsprachigen Raum eine breite Präsenz erworben.
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Anthologien wie dieser im Vervuert Verlag erschienenen sei Dank!
Dieser 1988 –
aus Anlass der 1000 Jahre zuvor erstmals errungenen staatlichen
Unabhängigkeit Kataloniens –
herausgebrachte Band war auch als Ermutigung gedacht, als Weckruf nicht
zuletzt an die Nordeuropäer, die kulturelle Erneuerung Kataloniens endlich
zur Kenntnis zu nehmen. Es sollte noch weitere zwei Jahrzehnte dauern, bis
er Figaro unter Tamarisken am Strand von Canyamel erreichte. Aber dort hat
er ihn vernommen. |
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Roman
aus dem Katalanischen von Kirsten Brandt |
Berlin: List Taschenbuch 2009 (60866) 123 S. |
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Bei Hugendubel am Münchener Stachus war er ihm
in die Hand gefallen, auf der Rückfahrt im ICE hatte er ihn in einem
Zug gelesen, den neuen Roman
der 1948 in Palma geborenen, seit 1965 in Barcelona lebenden
Autorin und Literaturdozentin Carme Riera. Offenbar ist die
katalanischsprachige Literatur inzwischen auch in Deutschland
in gut sortierten Buchläden präsent. Figaro fühlt sich mithin in
seinem Anliegen, für diese in Europa oft verkannte literarische
Provinz zu werben, einmal mehr bestätigt. Ist sie doch für Europas
Kulturlandschaft durchaus eine Bereicherung. Der kurze, 2007 zur
Buchmesse in Frankfurt zunächst in Hardcover bei Ullstein
erschienene und seit 2009 auch als List Taschenbuch vorliegende
Roman Der englische Sommer aus dem Jahre 2006 – L'estiu
del l'anglès – jedenfalls erfüllt die Erwartung an
lesenswerte Unterhaltung in jeder Hinsicht: eine spannende Lektüre
für wenige Stunden, virtuos erzählt, in klarer und differenzierter
Sprache, voll hintergründiger Ironie. |
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Dabei ist der Plot denkbar einfach: Die
neunundvierzigjährige Immobilienmaklerin aus Barcelona ist über Nacht wild
entschlossen, ihre Karriere-, wo nicht ihre Lebenschancen während ihres
Urlaubs durch einen Sprachkurs in England durchschlagend zu verbessern. Im
Internet bucht sie kurzerhand das scheinbar ganz ideal auf ihre
Lebenssituation zugeschnittene Angebot: Einzelunterricht in abgelegenem
englischen Landhaus bei einer passionierten Lehrerin im Ruhestand. Dass
aus der Idylle dann im Alltag rasch ein Albtraum wird, ist dem naiven
Wunschdenken wie der Unvereinbarkeit der beiden Charaktere gleichermaßen
geschuldet. Und die Situation gerät unaufhaltsam außer Kontrolle, sobald
unter dem Druck der latent immer möglichen sadomasochistischen
Lehrer-Schüler-Relation die Fassade des Trivial-Alltäglichen die
verdrängten Minderwertigkeitskomplexe der beiden Frauen, die glauben, dass
Männer bereits "ihre Vergangenheit" seien, mit Macht freigibt. Jeder
Versuch dieser neuroseträchtigen Lage zu entkommen, beschleunigt nur die
Katastrophe. |
Figaro ist diese Logik des Absurden
durchaus vertraut. Bei Ionesco – nicht nur in La Leçon
(Die Unterrichtsstunde) – ist sie ihm oft begegnet. Aber anders als
die Dramatiker des Absurden nutzt Carme Riera die paroxystische
Dynamik der Selbstzerstörung nur vermittelt, gleichsam in der
reflektierenden Rückschau. Noch auf dem Krankenlager, aber schon
unter Anklage sucht die Ich-Erzählerin – gleichsam in einem
Aussageprotokoll für ihren Anwalt – das Unbegreifliche in der
Rückschau zu erklären. Dieser Erklärungsversuch des eigentlich
Unerklärlichen – das Niederstechen einer als Bedrohung empfundenen
Lehrerin im Affekt – durch ein Netz von subtilen Vorausdeutungen
macht wie im Psychothriller das Anschwellen des Angstpegels in der
Protagonistin nachvollziehbar. Gezielt konterkariert wird dieses
Erschauern freilich durch die Distanz schaffenden Abweichungen der
Erzählerin, in denen diese über ihre eigene kollektive
Befindlichkeit als Katalanin –
gegenüber dem vermeintlichen Kulturimperialismus der Engländer etwa,
jene "Einwohner des perfiden Albion", die gegen Südländer "immer
noch Animositäten" hegen – sinniert, so als suche sie, die sich
ansonsten durchgängig als Opfer sieht, unterschwellig doch
nach mildernden Umständen für eine Tat, die sie als Täterin sich
letztlich doch nicht zu erklären vermag – allen Schuldzuweisungen an
das zur Pathologin stilisierte Opfer zum Trotz. |
"Manchmal", so endet der Roman, "packt mich
Reue, vor allem, wenn ich mich selber sehe, die Schere in der Hand,
und mich dabei beobachte, wie ich sie der Grose in den Leib stoße,
ein, zwei, drei... dreizehn
Mal." Ein überraschender Schlusssatz eines als Selbstplädoyer
angelegten Berichts, der in dieser tabulos naiven Direktheit der
Aussage Figaro entfernt an den so genannten tremendismo eines
Camilo José Cela erinnert. Mit dieser Technik konnte einst der
spätere Nobelpreisträger seinen Protagonisten Pascual Duarte sich
zugleich selbstbezichtigen lassen und die Gesellschaft
stillschweigend mit auf die Anklagebank setzen. Hier nun öffnet die
Schlusspointe über dem Spannungsbogen des linear erinnerten Ablaufs
der Ereignisse den Blick auf die Abgründe unserer gesellschaftlich
konditionierten Natur. |
In Figaros Augen gewiss eine meisterhafte
Erzählerin. Die Virtuosität ist geradezu ihr Markenzeichen:
erkennbar bereits in ihrer ersten 1988 auf Deutsch erschienenen
Erzählung Und lass als Pfand, mein Liebling, Dir das Meer (Te
deix, amor, la mar com a penyura 1975), wenige Seiten
nur, die der gleichnamigen, bei Vervuert erschienenen Anthologie
katalanischer Erzähler ihren Titel verleihen und die ihren späteren
Erfolg begründen, oder ausgepägter schon in der 1993 als Fischer
Taschenbuch erschienenen Novelle Selbstsüchtige Liebe
(Cuestión de amor propio 1988). Auffällig auch deren
strukturelle Analogie mit dem hier in Rede stehenden Roman. Wie im
Englischen Sommer so suchen auch dort Ich-Erzählerinnen
in Form eines Briefes nach Erklärungen ihres Scheiterns, ihrer
frustrierten Erwartungen. Obsessive Monologe allemal, geschrieben
gleichsam vor dem Gitter eines säkularisierten Beichtstuhls. Es sind
freilich hoffnungslose Plädoyers, hat doch die jeweilige
Gesellschaft ihr Anliegen immer schon verworfen: das Lebensrecht der
lesbischen Liebe in Zeiten des Franquismus, die Selbstachtung der
Frau in der heterosexuellen Partnerschaft in Zeiten der
karrieresüchtigen Transición oder das nicht zuletzt am
eigenen Geschlecht scheiternde Autonomiestreben der Frau auch
in unseren ach so permissiven Zeiten. Und das pointierte Ende dieser
Erzählungen bestürzt dann umso mehr, als es die Schuldfrage nach
Beichte und Plädoyer noch einmal neu und direkt an uns alle
zurückgibt. |
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Tiepolo und die
Unsichtbare Stadt
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Ungekürzte Taschenbuchausgabe München,
Zürich: Serie Piper 2008 (5290) |
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Was hat das namenlose Fischerdorf
La Ràpita im Ebrodelta, das
Carlos III im Zuge seiner Reformpolitik als Sant Carles
einen Moment lang zum Sankt Petersburg des Mittelmeers machen wollte
und dessen Ruinen Franco auf einer Propagandatour in den 60-er
Jahren nicht einmal mehr eine Erinnerung wert sind, mit der
Identität der Katalanen im 21. Jahrhundert zu tun? Eine ganze Menge,
wenn wir den 2005 erschienenen und sogleich mit dem Sant
Jordi Preis prämierten Erfolgsroman
La Ciutat Invisible
von Emili Rosales aufmerksam lesen. |
Was hier wie ein
historischer Abenteuerroman und zeitgenössischer Krimi in eins
daherkommt, wird in der Tiefe zusammengehalten durch jenen knorrigen
Mythos der Fremdbestimmung, nach dem die Katalanen sich als
Daueropfer willkürlicher Despoten aus Madrid empfinden, der ihnen
jede Chance auf kreative Selbstentfaltung verwehre. |
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Ohne
Eigenständigkeit aber kein Heil. Unsere beiden Helden
– ihre Namen wirken wie Projektionen ihres
1968 in eben diesem Fischerdorf geborenen Autors Emili Rosales –
nämlich Adrea Roselli, der visionäre Bauherr aus Arezzo in Diensten von
Carlos III und Emili Rosell, der frustrierte Galerist aus dem Barcelona
unserer Tage, müssen diese Lektion unter Schmerzen lernen, bevor sie sich
selbst und ihr Glück finden. Denn erst ihr Scheitern weist ihnen den Weg
zu einem Leben in Freiheit. |
Ohne diesen mythischen
Horizont macht die Zusammenschau zweier, 250 Jahre voneinander getrennter
Lebenskurven in einem Roman wenig
Sinn, in diesem Lichte aber wird die Verschmelzung dieser beiden
Autobiographien zu einem fesselnden literarischen Abenteuer. Erzählerisch
aufgezogen wird es geradezu virtuos. Denn die beiden Memoiren treten dem
Leser naturgemäß nicht nacheinander vor den Blick, sondern in genau
kalkuliertem Wechsel von Kapitel zu Kapitel. Die Spannung des Romans
steigt in dem Maße, wie das Verschmelzen der beiden zeitlich unverbundenen
Handlungsstränge dem gleichsam kriminalistischen Spürsinn sich erschließt
und die Gegenwart durch die Vergangenheit so situiert erscheint. Das
Mittel ist wie so oft im Roman der Fund eines Manuskripts. |
Hier sind es die italienisch geschriebenen
Memoiren von Andrea Roselli, die unserem Protagonisten Emili Rosell
mit dem apokryphen Titel La Ciutat Invisible unter
mysteriösen Umständen zugespielt werden. Und in dem Maße, wie er
dieses Manuskript übersetzt, durchschaut er nicht nur die
dramatische Suche seiner Bekannten nach einem angeblich
verschollenen, sündhaft teueren Tiepolo, sondern findet auch den
Ariadnefaden aus dem Labyrinth seines eigenen fremdbestimmten
Lebens, aus den Lügen und Verdrängungen seiner Kindheit. |
Und weil der Autor Geschichte nicht als unausweichliches Schicksal,
sondern als Entscheidungsfolie für die Zukunft sieht, sucht auch unser
Galerist nicht die Wurzeln seiner leiblichen Herkunft in der Francozeit,
sondern stellt sich stattdessen dezidiert in die ideelle Nachfolge jenes
italienischen Baumeisters, dessen Vision von Sant Carles de la Ràpita er
durch eigene Anstrengung gerade erst wieder neu zur Ansicht gebracht
hatte. "Meine Familie"
– so sein letzter Eintrag
– "in der Nacht, auf dem Weg zum Licht."
Ein Schlusssatz, der sich für seine katalanischen Zeitgenossen zumal wie
das Versprechen einer kollektiven Leuchtspur liest.
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Tiepolo und die unsichtbare Stadt
– der Titel der deutschen Ausgabe, die in der Übersetzung von Kirsten
Brandt seit 2008 auch als Taschenbuch in der Serie Piper vorliegt, erweist
sich als glücklicher Fund. Schließlich besetzt Tiepolo in diesem
„historischen“ Roman narrativ wie diskursiv eine Scharnierfunktion: Spornt
die Hoffnung auf einen verschollenen Tiepolo die Gier der Zeitgenossen an,
weckt die Erinnerung an das Genie dieses barocken Malers des
Settecento, der selbst zeitweise in Karls
Diensten stand, die Sehnsucht nach Freiheit. Emili Rosales bietet mit
diesem Roman spannende Unterhaltung. Weniger anspruchsvolle Literatur als
journalistische Pointierung, gewiss, aber eine, die für die Dauer der
Lektüre Figaro ungleich tiefere Einblicke in katalanische Mentalitäten
erlaubt als ein Jahresabonnement der spanischen Tagespresse.
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Eine stürmische Reise durch
Zeiten und Kulturen |
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Katerstimmung liegt in diesen Tagen der
weltweiten Banken- und Wirtschaftskrise über Europa, vor allem der
Süden scheint von tiefen Depressionen geschüttelt. Die alten, im
Zuge des nicht enden wollenden Booms der letzten Jahrzehnte
überwunden geglaubten Ängste in der Moderne, die von der eigenen
Rückständig- und Bedeutungslosigkeit zumal, stehen dort erneut im
Raum. |
Da mag die Mediterrània des
mallorquinischen Autors Baltasar Porcel wie ein heilsames
Therapieangebot erscheinen. Denn diese, eigenem Urteil nach
„kapriziöse, historisierende Reise“ (S. 296) durch die Zeiten und
Kulturen des Mittelmeers nährt den Traum von der Wiedergeburt dieses
Kulturraumes zu alter Größe, vom Mittelmeer als neuerlichem Zentrum
der Zivilisation mit Barcelona als möglichem Kraftzentrum einer
neuen lebenswerten Ordnung jenseits der Verwerfungen einer im Norden
entfesselten lebensfeindlichen Moderne. |
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Dieses zuerst 1996 erschienene Buch ist nun, seit 2009, unter dem Titel
Das Mittelmeer. Eine stürmische Reise durch Zeiten und Kulturen in der
schönen Übersetzung von Kirsten Brandt endlich auch dem deutschsprachigen
Leser im Transit Verlag zugänglich: Eine spannende Lektüre, schwungvoll,
stellenweise anrührend und mitreißend geschrieben. Und was sich auf den
ersten Blick wie ein frühes Bewerbungsschreiben für den Vorsitz der von
der EU projektierten Union für das Mittelmeer ausnimmt, wird für den
geduldigen Leser zu einer aufschlussreichen Begegnung mit den
kulturellen Mythen dieses Raumes, die tief in die kollektiven
Befindlichkeiten seiner Menschen hinabreichen. |
Ziel
dieser kulturellen Spurensuche, die im Osten in vorhellenischer Zeit
einsetzt, bis sie im Westen bei den Migrationsbewegungen unserer Tage
anlandet, ist ein vertieftes Bild vom Mittelmeer als „gemeinsamem
ethnischen und kulturellen Nährboden“ (S. 196). Eine kühne, eine
optimistische Vision angesichts des oft lebensbedrohlichen Zusammenpralls
der religiösen und ethnischen Besonderheiten, eine Vision, in deren Licht
das verwirrende Ringen um die Vormacht an beiden Ufern des mare nostrum
wie unzeitgemäße, bedauerlicherweise nicht als solche erkannte
Bruderkriege erscheinen. |
„Mediterran“ ist das Losungswort dieser
Suche. Es steht idealiter für eine besondere Form des
In-Der-Welt-Seins, eine Kulturform, die die Landschaft wie das
Essen, das Dasein wie das Denken gleichermaßen umschließt. Im
Horizont der Entfremdungszwänge der Moderne, wie sie der Norden
unablässig generiert, wird das Mittelmeer hier zum Erfahrungs- und
Fluchtraum der Sehnsüchte seines Autors: nach Sinnlichkeit und
Kreativität, nach Licht und Wärme, nach Schönheit und Leben. |
Universale Sehnsüchte bei
Licht besehen, in denen Figaro mit seiner Dauersehnsucht nach dem Süden
sich unschwer wieder findet. Will ihm doch scheinen, als träume der
Mallorquiner ironischerweise hier ein Stück weit jenen Traum individueller
Selbstverwirklichung weiter, dem das Unbehagen an den Zwängen des
zweckrationalen Denkens, an der zuweilen menschenverachtenden Dynamik des
wissenschaftlich ökonomischen Fortschritts gerade in den Zentren des
Nordens früh schon und immer neu Form verliehen hatte - seit Winckelmanns
Traum von der „edlen Einfalt, stillen Größe“ der Griechen im einstigen
Hellas und in der Folge über die Romantik bis zu den Völkern des Südens,
jenen „peuples du Midi“ eines Camus. Porcel indes, der die Mission seiner
Insel als Begegnungsraum zwischen den beiden Ufern des Mittelmeers
versteht und namentlich in den Berbern seine Brüder erkennt, träumt diesen
Traum freilich weiter, bis er – und das ist beachtlich genug – die Völker
des Islam und das Judentum mit umspannt.
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Figaro fühlte sich, als er
dieses anregende Buch 416 Seiten später endlich wieder aus der Hand legte,
reich beschenkt, wenngleich ein wenig erschöpft, der unvermeidlichen Mühen
nach einem solchen par force Ritt durch Zeiten und Kulturen wegen
nicht allein. Ein solch bedingungsloses Werben für das Mediterrane hatte
ihn nachdenklich gemacht, zumal es sein Kampfprofil implizit auch einer
undifferenzierten Ablehnung der Moderne verdankt. Ein Buch, geschrieben
gleichsam mit dem Rücken zum Norden, äußerst lesenswert, gewiss, aber auch
blind für die Möglichkeiten zum lebensnotwendigen Dialog mit der Welt.
Sonst könnte der zerbrechliche Zauber des hier beschworenen Mediterranen, den das
wundervolle Schlussbild des Buches noch einmal mit Nachdruck vor unseren
Sinnen erstehen lässt, leicht auf Dauer verschwinden:
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„Gerade eben hat mir ein
wortkarger Fischer zwei Wolfsbarsche gebracht. Ich brate sie mir mit Salz
und Öl über dem lodernden Kaminfeuer. Aus dem noch winterkalten Garten
hole ich mir den ersten Mangold und ganz zarte Zwiebeln. Dazu mache ich
mir eine Flasche kühlen Weißweins auf. Ich habe knuspriges Brot. In diesem
Augenblick bin ich dem Glück sehr nahe. Ja, ich bin Teil dessen, was ist
und sein wird: unseres Mittelmeers.“
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Eine
Liebesgeschichte aus Katalonien |
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Wer als Tourist den Süden Europas mit einem Gefühl der Leichtigkeit
des Lebens assoziiert, kann in der katalanischsprachigen Literatur
hinter der Idylle der Landschaft eine unvermutete Härte des Alltags
entdecken, die die Menschen in den Metropolen des Nordens
gleichermaßen befremdet wie fasziniert. Der Roman Solitud –
„Einsamkeit“ – verspricht ein solches Erlebnis befremdlicher
Selbsterfahrung. |
Es ist eine ereignisarme, gleichwohl spannungsreiche Geschichte
unerfüllter Liebe. Angesiedelt ist sie in der schroffen Bergwelt
Kataloniens, die das Leben einer jungen Frau aus dem Volke von Grund
auf verändert. Als Mila, überredet von ihrem Ehemann Matías, in der
Einsiedelei ankommt, will ihr scheinen, „die dämmrige Abendstille
(bedecke) sie mit einem Leichentuch“ (S.27). Doch als sie sich nur
ein Jahr später „mit hoch erhobenem Kopf“ und „allein“ an den
Abstieg macht, um ihren Mann, einen Tunichtgut, für immer zu
verlassen, haben sich zwar „die bitteren Kristalle der Einsamkeit
auf ihrem Schicksal niedergeschlagen“ (S. 362), aber sie haben ihr auch Mut
zur Eigenverantwortung verliehen. |
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Es
ist ein dramatischer, ein schmerzhafter Prozess der Selbstfindung, der
angestoßen wird durch die Begegnung mit dem Schäfer Gaietà, in dem sie
einen wahren Freund findet, vorangetrieben durch die frustrierende
Gleichgültigkeit von Matías und zum Ausbruch gebracht durch den Wilderer
Ànima, der ihr Gewalt antut.
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Der
Katalanin Catarina Albert i Paradís ist mit ihrem 1905 unter dem
männlichen Pseudonym Víctor Català veröffentlichten Roman ein Werk
gelungen, das die katalanische Literatur im Gleichklang mit anderen
Literaturen in Europa ausweist. Die Einsamkeit als Thema der ungestillten
Sehnsucht der jungen Frau im Kerker der Ehe hatte der realistische
naturalistische Roman bereits in Mode gebracht. Und in diesem Horizont mag
Mila wie eine entfernte Schwester der Emma Bovary, der Ana de Ozores oder
auch der Effie Briest wirken. Aber anders als jene Pathologien aus der
bürgerlichen Behaglichkeit der Städte entsteht hier in der Unwirtlichkeit
des bäuerlichen Lebens am Rande der Zivilisation das überzeugende Portrait
einer jungen Frau, die sich still und selbstbewusst aus ihrer
unbefriedigenden Ehe befreit – und das lange vor Federico García Lorca
oder D.H. Lawrence. |
Für die Freunde des psychologischen Romans
ein Genuss, ein Muss für die Spurensucher feministischer Literatur.
Immerhin schreiben wir das Jahr 1905 in Europa, und das im
ländlichen Spanien! Figaro hat es diese Welt noch aus einem ganz
anderen Grund angetan: hier begegnen ihm Menschen wie der Schäfer
Gaietà, die ihre Zeit nicht mit Jammern oder Klagen verbringen.
Menschen, die stark genug sind, das Leben so zu nehmen, wie es
kommt, und sich dabei auch noch um andere zu sorgen. Menschen, die
wie Mila auch, die Fähigkeit besitzen, pflanzengleich sich dem
Rhythmus ihrer Umgebung anzupassen. Doch lesen Sie selbst den Beginn
des siebten mit „Frühling“ überschriebenen Kapitels: |
„Die ersten Maitage waren
wundervoll: Das ganze Gebirge, voller Blütenduft, gleißend hell und
erfüllt von Vogelgesang, schien von seiner furchterregenden
tausendjährigen Greisenhaftigkeit befreit und zur verheißungsvollen Freude
seiner Jugend zurückzukehren. Jeden Morgen beim Aufstehen entdeckte Mila
neue Schönheit, die sie tags zuvor noch nicht wahrgenommen hatte; aber sie
entdeckte noch etwas anderes: Auch sie selbst schien schöner und jünger zu
werden. In ihrem klaren, hellen, doch immer ein wenig schwermütigen Augen
erschien ein fröhliches Blitzen, das Rot ihrer Lippen leuchtete mit nie
gekannter Intensität, ihre Brüste reckten sich prall wie die einer jungen
Mutter, und sie bewegte sich mit anmutiger Leichtigkeit. Diese äußeren
Veränderungen gingen mit überschwänglichen Gefühlen und einer gesteigerten
Empfindsamkeit einher, die sie selbst verwirrten, weil sie meinte, sich
fortwährend zu vervielfältigen und zu einer immer neuen Frau zu werden.“ |
Dieser
osmotischen Einheit der Menschen mit der Landschaft begegnet Figaro oft auf
seinen Streifzügen durch die Felder der katalanischsprachigen Literatur,
in den Werken von María Barbal oder Mercè Rodoreda, von Jaume Cabrè oder
Carmen Riera, von Baltasar Porcel und … manchmal auch beim Bummeln durch
die Gässchen von Artà. |
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Roman aus dem Katalanischen von Elisabeth Brilke |
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Frankfurt a. M.:
Eichborn 1996, 256 S. |
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Dieser Autorin
würde Figaro gerne einmal im Interview gegenübersitzen. Denn die Lektüre
ihrer Kriminalromane hat seine Neugier geweckt. Genauer gesagt: die Figur
der Detektivin Lònia, aus deren Perspektive die Fälle erzählt werden.
Hier
drei im Fischer bzw. im Eichborn Verlag in deutscher Übersetzung
erschienenen Krimis Drei Männer (1985/dt. 1991), Miese Kerle
(1988/dt.1992) und Mallorca Mord inbegriffen (1994/dt.1996).
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Welch erfrischende Erscheinung in all ihrer
Unzulänglichkeit. Tabulos, impulsiv und unerschrocken löst die
feministisch angehauchte Lònia mit Hilfe ihres schwulen Assistenten
Quim ihre Fälle ohne Rücksicht auf Verluste und steht am Ende doch
düpiert, fast mit leeren Händen da, weil ihre Klientinnen, denen sie
Genugtuung verschafft, sich der für sie erbrachten Anstrengungen
kaum würdig erweisen: weder die reife Frau, der sie den Weg zur
Rache an ihren Vergewaltigern eröffnet, noch die naive Großerbin,
die aus ihrem Martyrium in den Fangnetzen internationalen
Frauenhandels nichts gelernt hat, und auch nicht die gewiefte
Wahrsagerin, von der sie sich, ohne es zu ahnen, auf die
Zerschlagung eines Kartells zur Kinderpornografie hat ansetzen
lassen. Sie wird mit den gefährlichsten Männern fertig und zahlt
dabei menschlich doch drauf, nicht zuletzt mit der Einsicht in die
Abgründe der menschlichen Natur. |
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Ihre Fälle
besitzen die Dynamik einer Lawine: Was wie ein Allerweltsfall mit einer
Vermisstenanzeige beginnt, entpuppt sich unversehens als das Drehen eines
viel zu großen Rades im organisierten Verbrechen, mit Mallorca als
internationaler Drehscheibe. Und Lònia
– ohne nachzudenken
– mittendrin, die
Hosen oft gestrichen voll, aber unverzagt. Helden sehen anders aus: Sie
strahlt nicht die Souveränität ihrer männlichen Vorgänger aus. Von
Sherlock Holmes über Maigret bis Pepe Carvalho keine Spur; aber Lònia
gewinnt durch ihre burschikose Unverzagtheit. Ihre Art der
Selbstzurücknahme verleiht ihr einen Zug quijotesker Überlegenheit: so
gewinnt sie, ob sie gleich scheitert
–
zumindest unsere Sympathie.
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Und wo sich
mit jedem neuen Fall die Konturen jedes Einzelnen verwischen, gewinnt Lònia, die sich wie einst die Lozana andaluza mit Francisco
Delicado ihre Schriftstellerin in Gestalt der Mallorquinerin Maria Antonia
Oliver zur Verkündung ihres Rufes selbst ausgesucht hat, immer deutlicher
als Kind der Insel an Profil. Ablesbar am Stolz auf ihren mallorquinischen
Akzent, am Misstrauen gegenüber dem Fremden und an der Ungeduld gegenüber
den Verkarstungen der heimischen machistischen Gesellschaft. |
Was gäbe Figaro
nicht darum, mit Maria Antonia über Lònia ins Gespräch zu kommen!
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Roman aus dem Katalanischen
von Volker Glab |
Frankfurt a. M.: Valentia 2008 (Mallorca erzählt.
Literatur der Balearen 10) 273 S.
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Seit Figaro den Roman aus der Hand gelegt hat, geht er
ihm nicht aus dem Sinn. Er hatte schwer nur in ihn hineingefunden, jetzt fand er
schwer nur aus ihm heraus. Zu manieristisch im Stil, zu exzentrisch der
aristokratische Agent in Diensten der Ministerialbürokraten des demokratischen
Spanien, zu belanglos auch sein Auftrag: die Enttarnung eines Maulwurfs der
ausländischen Geheimdienste auf Mallorca zu Zeiten von Mauerfall und Perestroika.
Da lag für den Nordländer das „human interest“ nicht gerade auf der Hand. |
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Als ironische Metapher indes offenbart dieser eher
sperrige Spionageroman Figaro dann doch noch ein faszinierendes Eigenprofil –
jenseits des herben patriotischen Charmes der Gattung à la Childers wie der
kulinarischen Coolness eines James Bond. „Senyor Enric Puigdenfila i Visconti,
Vizegraf von Oloscau, Ritter des Heiligen Grabes und des Elfenbeinkreuzes, hoher
Beamter des Außenministeriums außer Dienst, Angehöriger der Geheimdienstes“
erzeugt als Dandy mit englischen Allüren Zwischentöne zwischen Gut und Böse,
stiftet Raum zur ironischen Entlarvung der narzisstischen Mythen hinter dem
Machogehabe der Geheimdienstler und gestattet augenzwinkernd mit seinen
distanzierten Beobachtungen einen unvermuteten Blick auf die komplexe Seelenlage
der Mallorquiner, ihren hochfahrenden Stolz, ihr tiefverwurzeltes Misstrauen
gegenüber allem Fremden und ihren abgrundtiefen Versagerängsten gleichermaßen.
Gleichsam spielerisch wird so der unterhaltsame Spionagethriller zum
verlässlichen Spiegel mallorquinischer Mentalitäten unserer Tage. |
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Keiner langen Kommentare bedarf es zu solchen Einsichten.
Es sind vielmehr beiläufige Bemerkungen, situative Beobachtungen unseres
Agenten, die schlaglichtartig diese im Dunkel der Verdrängung wabernden Mythen
der Insulaner erhellen. Sie blitzen in alltäglichen Situationen wie an
Wendepunkten der Geschichte auf. So der zwanghafte Reflex, den als
(fortschrittlicher geltenden) Nordeuropäern immer mindestens auf Augenhöhe
begegnen zu müssen, und sei es auch nur bei der Bestellung eines sorgsam ausgewählten Gerichts im
Restaurant: ein kurzgebratenes Brassenfilet mit Salzkartoffeln. |
‚„Aber von denen aus Sa Pobla, ja?“, dazu einen gut
gekühlten Rheinwein, „Aber er soll von Rhein sein; ich will keinen Ersatz, es
gibt schon genug nachgemachte spanische, die so tun wollen, als wären sie
Europäer“, machte er dem Maître klar und lächelte dazu in stillschweigendem
Einverständnis.“ (S. 72) |
Ungeachtet seines Distinktionsverlangens teilt unser
anglophiler Dandy sowohl das Misstrauen seiner Landsleute gegenüber dem Fremden
(S. 236) als auch deren Minderwertigkeitstrauma gegenüber den ach so
effizienten Nordeuropäern (S. 266). Als Kompensation genießt er die seiner
wachen Intelligenz und seinem Lebensstil geschuldete Überlegenheit gegenüber den
effizienten, aber hölzern, roboterhaft wirkenden Geheimdienstlern in der DDR (S.
200) in vollen Zügen und verachtet die ansonsten gefürchteten Kollegen aus
England, wenn sie sich als Touristen auf seiner Insel als Banausen entlarven (S.
256). |
Der Spionageroman als Mythenkritik, kein schlechtes
Argument für eine Lektüreempfehlung, zumal diese geistreich und mit
augenzwinkerndem Lächeln erfolgt. |
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Senyoria
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Roman aus dem Katalanischen
von Kirsten Brandt |
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2010
(st
4204) 444 S. |
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Dieser 1991 unter dem Titel
Senyoria in Barcelona auf katalanisch erschienene Roman ist eine der
gegenwärtig so beliebten historiographischen Metafiktionen, d.h. jenes
Typs von historischem Roman, in dem die Merkmale einer vergangenen Epoche
mit frei erfundenen Akteuren und Ereignissen eingefangen werden und dessen
Handlungsführung sich als spannende mise-en-abîme entpuppt. |
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Die Handlung spielt in der Endphase des
Absolutismus in den tonangebenden Kreisen von Barcelona, einer Zeit,
die gekennzeichnet ist durch die postrevolutionäre Angststarre der
Eliten in Europa vor dem Umsturz im eigenen Land. Die ökonomische
Erschöpfung des Adels auf der einen und die Skrupellosigkeit des
nachdrängenden Bürgertums auf der anderen Seite lassen jede Form
zukunftsweisenden Handelns zur sinnlosen Geschäftigkeit einer
Tretmühle verkommen. In Katalonien zumal, wo die Eliten die Ohnmacht
ihres Stellvertreterdaseins für die okkulten Machthaber im fernen
Madrid durch rauschende Feste überdröhnen. Die Millenniumsfeier des
Jahres 1800, in deren Verlauf der Gerichtspräsident von Barcelona,
der sich so gerne im Glanz seines Titels Sa Senyoria sonnte, seinen
Tod und der Roman sein Ende findet, ist trauriger Höhepunkt dieser
Haltung. |
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Postmodern ist auch die
Dynamik der Handlungsführung: das Geschehen scheint so zufällig wie die
Wertmaßstäbe in der Gesellschaft beliebig. Obskure Vorfälle an der
Peripherie dieser Welt verrücken so die Statik des Zentrums. Eine Reihe
scheinbar zusammenhangloser Zufälle – der Tod eines angehenden Poeten nach
kurzer Liebesnacht mit einer nymphomanen Sängerin, die Lebensbeichte eines
vergrämten, rachsüchtigen Gärtners, das Auftauchen eines
kompromittierenden notariellen Protokolls – legen sich im Abgleich der
Perspektiven der Betroffenen unvermutet wie eine Schlinge um den Hals des
Gerichtspräsidenten, der nicht einsehen mag, dass sein längst verdrängtes
Verbrechen in Wahrheit der Ausgangspunkt so unterschiedlicher
Begebenheiten werden konnte. |
Dass er die Schlinge
schließlich selber zuzieht, ist Ausdruck seiner Verblendung. Eine absurde
Ironie des Aufbaus: Alles, was der gehörnte Alte zur Vertuschung der
Ermordung seiner Geliebten unternimmt, fällt unerbittlich, aber gleichsam
auf Umwegen und unvorhersehbar auf ihn zurück. Eine Katharsis geht daher
von seinem Ende nicht aus. Sein Suizid sühnt nichts, weder seine
Verderbtheit noch die Korruption des Systems, dessen Teil er ist. |
Erzählt wird diese Geschichte
aus fernen Tagen in wechselnden Modi der Ironie, frei von Pathos und
Besserwisserei, gleichsam eine diskrete Allegorie unseres eigenen Tanzes
um das Goldenen Kalb, in dem die Stellvertreter-Eliten unserer Tage ihre
schamlose Selbstsucht in einer Welt am Rande des Abgrunds inszenieren. |
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Nebeldame |
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Roman aus dem Katalanischen von Axel Schönberger |
Frankfurt
a. M.: Domus Editoria Europaea 2003, 167 S. |
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Wer Literatur als einen
besonderen Ort nationaler Standortsuche versteht, differenzierter und
nachhaltiger als jener andere, von der Hektik der politischen Schlagzeile
in den Massenmedien inszenierte, kommt hier voll auf seine Kosten. Ist
dieser 1987 unter dem Titel La Dama de les boires bei Plaza y Janés
erschienene Roman doch weit eher ein aktuelles Reflexionsangebot über die
Identität der Insel als ein historischer Bericht, so kulinarisch anregend
dieser auch immer sein mag. |
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Und kulinarisch ist der
Kern der Geschichte allemal: die historisch verbürgte Verbindung
zwischen Erzherzog Ludwig von Österreich und der Tischlerstochter
Catalina Homar enthält gewiss das Potential eines
erfolgversprechenden Feuilletonromans à la Eugène Sue, die Erlösung
des mächtigen Fremdlings von seinen inneren Dämonen durch die Liebe
der einheimischen Schönen eingeschlossen. Dass hier freilich die
Liebe nicht siegt und das Idealbild des legendären Liebhabers der
Insel, dem wir ein bis heute lesenswertes Standartwerk über die
Inselgruppe – Die Balearen in Wort und Bild – verdanken,
hinter den despotischen Zügen eines libidinösen Freigeistes
verschwindet, wird den Reiz für den Leser kaum schmälern. Im
Gegenteil! Eine intellektuelle Leserschaft zumal wird für eine solch
mythenkritische Lektüre der auf Mallorca immer noch sehr lebendigen
Überlieferung des Aufsehen erregenden Treibens dieses
großaristokratischen Sonderlings zwischen Valldemossa und Deià im
letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eher dankbar sein.
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Inszeniert wird diese Entzauberung durch die Wahl
eines Dritten zur dominanten Perspektive des Romans. Als Martí, der
zunächst noch namenlose Ich-Erzähler, seinen Bericht über die wahre Natur
der Beziehung des Erzherzogs zur Insel und der dort von ihm abhängigen
Menschen beginnt, lebt er als Klausner in einer kleinen Einsiedelei nahe
S’Estaca, wo Catarina, die Catalina des Romans, dessen Weingut während der
quälend langen Abwesenheit des umtriebigen mächtigen Eindringlings bis zu
ihrem Tode verwaltet hatte. Auch für ihn wie für die zur Senyora
aufgestiegene Lieblingskonkubine, zu er sich lange selbst in heimlicher
Liebe verzehrte, war der Mächtige aus dem Norden unvermutet Liebhaber,
Vater und Mentor geworden, dem der ungebildete Bauernsohn von einst nicht
nur seine leidvollen Verirrungen, sondern auch seinen Aufstieg zum
Ordenspriester verdankt. So wird sein langer Brief an die Adresse des
ersehnten, so lange schon fern von Mallorca in der Welt umherschweifenden
Herrn, jenes Verführers und Förderers in eins, zu einem schwierigen
Rechenschaftsbericht, zum schmerzlichen Versuch einer Selbstvergewisserung
durch Distanznahme. |
Dieser Versuch beginnt am Tag des Todes der an
einer ansteckenden und unheilbaren Hautkrankheit verstorbenen Geliebten am
„11. April 1905, zur Stunde des ersten Schlafes“ und endet ein Jahr später
am „4. April 1906, während des Vespergesangs“, als auch der Erzähler
bereits die tödlichen Flecken auf seiner Haut bemerkt. In der Strenge des
klösterlichen Tagesablaufs ringt er in Form eines Journal intime in
seinen über diesen Zeitraum verteilten Tagebucheintragungen – 27 an der
Zahl – nach Ordnung in seinen Erinnerungsfetzen und nach Bewertung des
überlegenen Fremden für die Insel und ihre Menschen. Ein schwieriges
Unterfangen: so assoziativ die Erinnerung Raum und Zeit überfliegt – die
letzten fünf Jahre einer gewollten Abwesenheit Ludwigs von der Insel, aber
auch dessen Kindheit in der Toskana und dessen sporadischen Kontakte zum
Hof des kaiserlichen Wien –, so vielschichtig erscheinen die Urteile über
das Zusammentreffen zweier derart unterschiedlicher Welten, über die
Ambivalenz von Fortschritt und Zerstörung, über Fluch und Segen von
Schönheit und Macht. |
Leicht überschaubar – kulinarisch – ist eine
solch postmoderne Erzählanlage selten, aber hier belohnt sie Geduld und
Mitwirkung des Lesers, wird gar zur Einladung an den neugierig gewordenen
Zeitgenossen. Denn die Brüche und Sprünge, Überlappungen und Auslassungen
öffnen zugleich Perspektiven, die über das Anekdotische dieser sonderbaren
Dreierbeziehung weit hinauszielen, und weiten so die Erzählung vielfältig
zur zeitgenössischen Allegorie. |
Im Horizont der hitzigen
Debatten über die Folgen des Massentourismus heute – der heutzutage
vielfach sogenannten
„sechsten Invasion“ der Insel – wirken die Überlegungen Martís freilich
wohltuend differenziert, bieten die Irrungen und Wirrungen unserer
Protagonisten im Roman wenig Raum für Stammtischurteile oder die
Totschlagargumente des Boulevard. Schwer zu sagen, wer hier Täter, wer
Opfer ist, wo die Grenze zwischen Ursache und Wirkung verläuft. Vielmehr
eine Schicksalsgemeinschaft der Einheimischen mit dem Fremden, dazu
verurteilt, gemeinsam nach Wegen in eine ungewisse Zukunft zu suchen. |
Wer wie Figaro als Kind des
Rhein-Ruhrgebietes, einer Gesellschaft mit unabweislichem
Migrationhintergrund, Liebhaber solch hintergründiger literarischer
Identitätsdiskurse ist, wird bereitwillig hinter der historischen Erzählung solch
aktuellen politischen Dimensionen nachspüren. Und hier muss er auch nicht
lange suchen, um fündig zu werden, um hinter den abschweifenden
Erörterungen des Erzählers über die Freiheitskämpfe im kaiserlichen
Vielvölkerstaat zur Zeit des Fin de Siècle etwa die brisante
Standortsuche der Insel innerhalb der Països Catalans wie mehr noch
innerhalb Spaniens, jener – eigenem Bekunden nach – „nación de quatro
nacionalidades“, ansichtig zu werden. |
Kurzum: Eine lohnenswerte Lektüre für alle,
denen das Schicksal der Insel ans Herz gewachsen ist. |
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Piñol |
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Roman aus dem Katalanischen
von Angelika Maas |
Frankfurt
a. M.:
S. Fischer 32007 (16557) 251 S. |
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Diesen 2002 im Original
unter dem Titel La pell freda – Die kalte Haut – erschienenen
Bestseller musste Figaro gleich ein zweites Mal lesen. So schaurig
schön und rätselhaft erschien ihm diese Erzählung eines vom Triumph
der eigenen Bewegung frustrierten Freiheitskämpfers der irischen
Republik, der sich für ein Jahr als Wetterbeobachter auf ein
gottverlassenes kleines Eiland am Rande der Antarktis verpflichtet
und der nach Ablauf des Jahres – den sicheren Tod vor Augen –
gleichwohl die Rückkehr in den Schutz der Zivilisation verweigert.
Genauso wie bereits ein Jahr zuvor der Spezialist für Seezeichen Batís Caffó bei der Ankunft des namenlosen Ich-Erzählers die
mögliche Rückkehr ausgeschlagen hatte, und der inzwischen von den
unheimlichen Froschmenschen getötet wurde, die nachts im Schutz der
Dunkelheit lautlos dem Meer entsteigen, um die Insel gegen den
erbitterten Widerstand der beiden einzigen Menschen dort zu
besetzen. |
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Auf den ersten Blick ein
spannender Abenteuerroman mit Elementen von Fantasy und Science Fiction,
linear, handlungsorientiert und in präziser Diktion erzählt, gewiss! Auf
den zweiten indes eher ein Stück jener emblematischen Literatur zur Zeit
des Barock, in der
die erzählte Geschichte als Exempel einer vorangestellten allgemeinen
philosophischen Einsicht oder anthropologischen Wahrheit fungiert. |
Auch hier eröffnet ein
Aphorismus die Erzählung, der gleichsam als Sinnspruch für das Folgende
empfohlen wird. „Wir ähneln denen, die wir hassen, mehr als wir denken.
Und deshalb glauben wir, dass wir denen, die wir lieben, nie ganz nahe
sind. Als ich mich einschiffte kannte ich dieses grausame Gesetz bereits.
Doch es gibt Wahrheiten, die unsere Beachtung verdienen, und solche, mit
denen wir uns besser nicht befassen.“ (S.5) |
Im Horizont der zweiten
Lektüre scheinen die Stationen des Romans – Extremsituationen allemal –
dieses „grausame Gesetz“ der menschlichen Natur zu illustrieren: das
Eingespanntsein „in einer von Gewalt gesteuerten Welt, die das Unglück der
Menschen endlos fortsetzt“ (S.35), solange das Nicht-Verstehen-Können des
Gegenüber die Regel bleibt. Gefangen in der eigenen Haut, bleiben die
Fremden [hier: die „Citauca“, sprich die Acautic, die Unterseewesen und
die Überläuferin „Aneris“, sprich Sirena, die Geliebte aus dem Meer) oder
der Andere (hier: Batís Caffó, der „Scheißösterreicher“ (S. 224)]
angstbesetzte Gegenüber, die uns eine Reise ins Innere des eigenen Ich
aufnötigen, vor der wir nicht selten – wie unserer Ich-Erzähler auch –
nur erschaudern können. |
Emblematisch auch die
Ausgangssituation unseres Ich-Erzählers: Die Flucht aus Frust aus der
Mitte an den Rand der Zivilisation. Sie ist spätestens seit der Romantik
ein Grundmuster fiktionaler Reiseliteratur, von Chateaubriand bis Joseph
Conrad oder Alejo Carpentier immer neu mit großem Erfolg variiert. Und
natürlich fehlt die mit einem solchen Abenteuer einhergehende
Relativierung Europas und seiner Werte, die uns seit der Frühen Neuzeit,
in den Erfahrungsberichten der spanischen Eroberer, mehr noch in den
skeptischen Essais eines Michel de Montaigne begegnet, auch hier
nicht. Im Rausch der Stille verdankt wohl nicht zuletzt dieser
universalen kulturellen Vernetzung seine breite Resonanz als spannende
Unterhaltung und als Reflexionsangebot. |
Figaro nimmt solche Angebote
immer gerne an – natürlich auf eigene Gefahr und ohne Gewähr. „Ich war das
letzte Sandkorn dieses unendlichen Strandes, der Europa heißt.“ (S.172)
Dieses ungewöhnliche, schöne Bild für das Gefühl der Verlorenheit unseres
Protagonisten etwa lud ihn einen Moment lang zum Verweilen ein. Auf der
Ebene der Erzählung ist die tiefe Ernüchterung dieser Feststellung im
Gefolge eines schier ausweglosen Abwehrkampfes gegen die unnachgiebigen
Citauca unmittelbar nachempfindbar. Im Horizont des zuvor skizzierten
posteurozentrischen Diskurses wirkt diese Metapher Europas zugleich als
Appell, das Gewicht und die Stellung dieses kleinsten aller Kontinente im
Zeichen der aktuellen Globalisierungstendenzen neu zu vermessen. Eine
nicht ganz unzeitgemäße Überlegung auf einem dramatisch schrumpfenden
Archipel! Wird das einst stolze Europa bald selbst „eine verlorene [Halb-]Insel
am Rande der bewohnbaren Welt“, als Festung unablässig berannt von
undurchschaubaren Fremden wie das Eiland unseres Ich-Erzählers? – „Ein
Stück Land, das zwischen dem Grau des Ozeans und dem Grau des Himmels
zerdrückt wurde und von einem weißen Schaumband umgeben war“. (S.6) |
Mit anderen Worten: Anlage, Schreibart und
Thematik dieses Romans provozieren eine wiederholte Lektüre und sie
verdienen sie auch. Er ist zudem der erste internationale
katalanischsprachige Bestseller seit dem Neuanfang dieser Literatur in den
sechziger Jahren mit universalem Anliegen, bei dem auf der Ereignisebene
die Bespiegelung des tema de Catalunya zumindest nicht im
Vordergrund steht. |
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diamant |
-
Auf der Plaça del Diamant - |
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Roman aus dem Katalanischen
von Hans Weiss |
mit einem
Nachwort von Gabriel García Márquez |
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Frankfurt
a. M.: Suhrkamp 2007 (st 3878) 251 S. |
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Natàlia, die Ich-Erzählerin dieses Romans, hat schon als junges Mädchen lernen
müssen, sich widerspruchslos an die Gegebenheiten anzupassen, an die
Lieblosigkeit im Hause des Vaters, in dem die Stiefmutter den Ton
angibt, an die Launen ihres Taugenichts von Ehemann Quimet, der sie
nur noch Colometa, das Taubenmädchen nennt und ihr jede
Eigenständigkeit abspricht, obwohl er sie mit der Sorge um ihre
beiden Kinder alleine lässt, an die Ausbeutung auch durch ihre
herzlose Herrschaft, in deren Diensten sie Hunger und Not während
des Bürgerkrieges getrieben haben. Sie hat lesen und schreiben
gelernt, genug um Backwaren zu verkaufen, zu wenig, um zu verstehen,
warum Männer in den Krieg ziehen, um – wie ihr Mann und ihre Freunde
– dort den Tod zu finden, und warum danach Sieger Besiegte auf
offenem Platz erschießen. Dieser allgemeinen Todesspirale ist sie
hilflos ausgeliefert, bevor der Zufall einer Begegnung mit Antoni
sie davor bewahrt, sich in ihrer Verzweifelung mit ihren beiden
Kleinen das Leben zu nehmen. Erst an der Seite dieses fürsorglichen
Kolonialwarenhändlers, der impotent als Kriegsinvalide den Wahnsinn
überlebt hat, findet sie mühsam zu sich selbst und ein bescheidenes
Glück als Mutter und Frau. |
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Eine Allerweltsgeschichte aus dem Barcelona der 30-er Jahre mithin. Im
Mittelpunkt steht eine einfache Frau, fraglos fremdbestimmt von ihrem
Vater, ihrem Mann, ihrem Arbeitgeber, von der Gesellschaft und überrollt
von den Ereignissen. Nichts Spektakuläres halt. Und doch hat diese
Geschichte aus einer anderen Zeit Figaro unmittelbar angerührt. Zugegeben,
Geschichten aus dem Alltag der kleinen Leute haben es ihm schon immer
angetan. Aber diese ging ihm so sehr unter die Haut, dass er bei ihr mit
wachsendem Interesse zu wiederholter Lektüre verweilen mochte. Es war wohl
zuerst der suggestive und eindringliche Ton, der auch in Momenten höchster
Not frei von deklamatorischem Pathos bleibt, der ihn immer neu fesselte.
Hier wirkt alles sinnlich, konkret, authentisch. Diese Wirkung ist –
technisch gesprochen – der personalen Erzählsituation mit Reflektorfigur
geschuldet, d.h. die Romanfigur ist hier nicht nur Handlungsträger, sie
fungiert auch als Ersatz eines (auktorialen) Erzählers, und das
gleichermaßen in erzählender und in reflektierender Weise. Wir
partizipieren so unmittelbar an den Bewusstseinslagen der Figur, teilen
deren Perspektive, ohne doch von ihr vereinnahmt zu werden. |
In etwa so wie in jener Situation, in der die
allein gelassene Frau unter der alltäglichen Überforderung schier zu
zerbrechen droht: |
„Das Gegurre verfolgte mich,
wenn ich morgens zur Arbeit ging, es war wie eine Hummel, die in meinem
Gehirn rumorte. Manchmal sagte mir die Senyora etwas, aber ich war so
zerstreut, daß ich ihr nicht antwortete, und da sagte sie dann, hören sie
mich denn nicht? |
Wie sollte ich ihr denn sagen,
daß ich nur noch die Tauben hörte, daß mir die Hände nach Schwefel rochen,
den ich in die Tränken tat, und nach Futter, das ich vorsichtig in den
Freßnäpfen verteilte, damit auch nichts verloren ging und damit es überall
gleichmäßig verteilt war. Wie sollte ich ihr denn sagen, daß ich jedes
Mal, wenn ein halb ausgebrütetes Ei aus dem Nest gefallen war, vor dem
Gestank zurückschreckte, auch wenn ich mir die Nase mit zwei Fingern
zuhielt. (...) Und daß alles nur deshalb angefangen hatte, weil ich bei
ihr zu Haus arbeiten musste und so müde war, daß ich mich nicht einmal zum
Nein sagen aufraffen konnte, wenn es nötig war. Wie sollte ich ihr denn
sagen, daß ich niemanden hatte, dem ich mein Leid klagen konnte, daß meine
Qual eine Qual ganz für mich allein war, und wenn ich mich ab und zu mal
zu Haus beschwerte, fing Quimet an und sagte, sein Bein täte weh. Wie
konnte ich ihr denn sagen, daß meine Kinder wie zwei verwahrloste Blumen
waren, und daß meine Wohnung, ein richtiges kleines Paradies, jetzt nur
noch eine große Rumpelkammer war, und daß ich abends, wenn ich die Kinder
zu Bett brachte und ihnen das Nachthemdchen hochhob und auf den Nabel
drückte und Klingeling machte, damit sie lachten, nur das Gegurre von
Tauben hörte, und mir der Geruch der fiebernden Tauben nicht aus der Nase
ging. (...)“ (S. 114 f.)
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An Stellen wie diesen ist
Figaro geneigt, dem Lob des kolumbianischen Nobelpreisträgers Gabriel
García Márquez über die Erzählkunst von Mercè Rodoreda uneingeschränkt
beizupflichten: „ Offenbar wissen nur wenige Leute außerhalb Kataloniens,
wer diese unsichtbare Frau war, die in herrlichem Katalanisch einige
schöne und harte Romane schrieb, von denen es in der gegenwärtigen
Literatur nicht viele gibt. Einer von ihnen – Auf der Plaça del Diamant
– ist, meiner Meinung nach, der schönste, der nach dem Bürgerkrieg in
Spanien veröffentlicht wurde.“ (S. 227) |
Wie hoch auch immer der
Einzelne diesen Roman aus dem Jahre 1962 für sich persönlich ansiedeln
mag, eine Begegnung mit dieser 1983 verstorbenen Erzählerin lässt den
Leser hoch beschenkt zurück, La Plaça del Diamant ebenso wie
Mirall trencat (Der zerbrochene Spiegel) oder Tots els
contes („Sämtliche Erzählungen“). Sie öffnen ihm den Blick für die
Unterschicht und bringen ihm unabweisbar die weibliche Sprache zu Gehör.
Ein selten gewordenes Lesevergnügen. Dank Mercè Rodoreda hat auch der
katalanische Roman teil an der europaweiten Erneuerung der Gattung in den
50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. |
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trottel |
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Aus dem Katalanischen von Monika Lübcke
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Frankfurt
a. M.:
Frankfurter Verlagsanstalt 2009, 142 S.
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Den gegenwärtigen
Meister der katalanischen Kurzprosa hat Figaro in dessen neuestem
Erzählband „Tausend Trottel“ schnell an der unverkennbaren
Stilgroteske erkannt. Die Kurzgeschichte Am Samstag in diesem
Band mag da als Beispiel stehen. In ihr erleben wir aus der sicheren
Distanz eines analytischen Beobachters, wie eine Sechzigjährige an
einem einzigen Tag alle greifbaren Erinnerungen an ihr bisheriges
Leben, an ihre Ehe zumal, mit gnadenloser Konsequenz entsorgt. Was
mit dem raschen Schnitt in ihr Hochzeitsfoto, aus dem sie ihren
Ehemann entfernt, beginnt, findet mit dem ebenso ungerührten Stich
in den eigenen Daumen als Auftakt einer peniblen Selbstenthäutung
seinen Abschluss, nachdem zuvor bereits alles andere in Haushalt und
Wohnung, was jemals mit ihm in Berührung gekommen war – Kleider und Mobiliar, Fliesen und selbst die Farbe an den Wänden – auf dem Müll
gelandet ist. Da lohnt ein Blick auf das Ende der Geschichte: |
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„Es ist Samstag, und deshalb
ist es überall still. Im Hausflur, in den anderen Wohnungen, auf der
Straße. Fast alle schlafen noch. Sie steckt die Hände in die
Schürzentasche und spielt mit der Schere. Sie holt sie heraus, und mit der
Stelle, wo sie am spitzesten ist, sticht sie in die Haut des linken
Daumens, dicht neben dem Nagel, und als es ihr endlich gelingt, die Stelle
einzuritzen, steckt sie die Schere wieder in die Schürze und reißt mit der
rechten Hand nach und nach die Haut ab. Ab und zu hält sie inne und tupft
das Blut mit der Schürze ab.“ (S. 43 f.) |
Diese Pointe als Höhepunkt
ihrer Selbstentsorgungsorgie ist geradezu zum Weinen komisch und offenbart
zugleich die existentielle Absurdität ihrer Aktion. Die tragikomische
Wirkung verdankt sich der Stilgroteske, die Quim Monzó so virtuos
beherrscht. Die Diskrepanz zwischen dem analytischen Gleichmut der
Beschreibung und der tabuisierten Ungeheuerlichkeit des Beschriebenen, die
konkrete Detailgenauigkeit im Unsagbaren, nicht zuletzt das äußerlich
fassbare An- und Abschwellen im Rhythmus der Sätze als Ausdruck der
inneren Dramatik sind hier die auffälligsten Merkmale. |
Es sind nicht die einzigen.
Die Vorliebe für Allerweltsfiguren mit exzentrischer Macke – tausend
Trottel halt – und der erfrischende Blick für das Ungewöhnliche im
Alltäglichen machen auch diesen Erzählband zu einem humorvollen
Lesevergnügen. Eine Spur melancholischer vielleicht als bei den früheren
Sammlungen – „Vom Grund der Dinge“ (1995) etwa oder „Die beste aller
Welten“ (2002). Haben doch Altern, Sterben und Tod sich hier thematisch
auf Kosten der Sexualität in den Mittelpunkt geschoben, eine Tendenz, die
bereits in der 2007 herausgebrachten Sammlung seiner Erzählungen unter
dem Titel „Hundert Geschichten“ erkennbar war. |
Für Figaro war die Begegnung
mit Quim Monzó literarisch gleichwohl stets ein Vergnügen. Dieses 2007 im
Original unter dem Titel „Mil cretins“ erschienene, einmal mehr von Monika
Lübcke virtuos übersetzte und von der Frankfurter Verlagsanstalt
handwerklich sehr ansprechend gestaltete Bändchen, macht da keine
Ausnahme. Schließlich ist auch Figaro älter geworden. |
Ob er den in Katalonien
vielfach ausgezeichneten Erzähler darum gleich als angehenden
Nobelpreisträger sieht, wie etwa die Tageszeitung „La Vanguardia“, für die
der 1952 in Barcelona geborene Autor seit Jahren als Kolumnist tätig ist,
sei dann doch dahingestellt. Einstweilen reicht ihm dessen Verortung in
der illustren Familie der grotesk absurden Avantgarden des 20.
Jahrhunderts für eine nachdrückliche Lektüreempfehlung völlig aus.
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Puppen |
- Das
Puppenkabinett des Senyor Bearn - |
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Ein mallorquinischer
Familienroman, aus dem Katalanischen von Jürgen Koch, mit einem Nachwort
von Johannes Hösle
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München,
Zürich: Piper 2007, 364 S. |
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Der
Niedergang einstiger Größe ist seit jeher ein privilegiertes Thema der
Literatur, schon allein wegen der Vielfalt und Differenziertheit der
Identifikationsangebote mit dem je anders inszenierbaren menschlichen
Leiden. |
Im Puppenkabinett des Senyor Bearn steht das Leben eines
Junkers im Fokus, der es fertigbringt, sein Erbe, ein riesiges Landgut, bis
auf den letzten Pinienhain ungerührt aufzuzehren – als junger Mann durch
die Eskapaden seiner Neugier (Teil 1 „Unter dem Einfluss von Faust“) und
als gereifter Mann durch die egoistische Muße beim Verfassen seiner
Memoiren (Teil 2 „Friede herrscht auf Gut Bearn“) – bevor er ohne
Nachfahren, wenn auch nicht kinderlos, völlig ruiniert, aber mit sich
selbst im Reinen den Freitod an der Seite seiner Frau und Cousine Maria
Antònia findet, einer treuen Seele, der die ruinösen Neigungen und Träume ihres
Mannes immer fremd geblieben waren. Ein „seltsames Leben“ aus der Sicht
des Erzählers dieses mallorquinischen Familienromans („Prolog“, S. 13), des Kaplans der
Familie und mutmaßlichen unehelichen Sohns unseres Junkers Don Tonet, gewiss, aber auch ein Leben, das exemplarisch stehen
kann für das Schicksal der Feudalaristokratie am Ende des 19.
Jahrhunderts, wenn nicht jedweder Elite, die nicht willens oder fähig ist,
auf revolutionäre Veränderungen zeitgemäße Antworten zu finden. |
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Eigenes Profil aber erhält
dieser Roman durch die besondere Anlage der Erzählung gleichsam latent als
doppelte Autobiographie: die Memoiren des Junkers und die Kommentare des
Kaplans. Doch die Memoiren des Junkers, die dem
Kaplan zur Veröffentlichung aufgetragen sind, kommen hier nur in Auszügen zur
Anschauung, Auszüge überdies, die dieser auswählt und im Horizont seiner
Lebenserfahrung im Hause der Bearn in der Absicht kommentiert, sie
ungeachtet des sündhaften Geschehens und der ketzerischen Ansichten dem
Sekretär des Erzbischofs von Spanien zur Veröffentlichung zu empfehlen, um
so das Vermächtnis seines trotz aller Fehler bewunderten Herrn loyal
einzulösen. Im Zusammenspannen dieser Positionen sind die Spannungslinien
durchgängig vorgegeben. Nicht nur zwei Welten treffen hier aufeinander –
Junker und Bauernsohn, Lebemann und Asket, Aufklärer und Kirchenmann –,
sondern auch zwei sperrige Charaktere mit ihren Widersprüchen, die sie
zudem zum eigenen Lager auf Distanz halten: der patriarchalische
Freigeist, der an der Prügelstrafe gegenüber dem leibeigenen Personal
festhält, obwohl er die Herrschaft seiner Kaste als Anachronismus
empfindet und der leutselige Sohn der Kirche, dem Hoffahrt und Jähzorn
dennoch übel mitspielen, können hier weder zueinander finden noch
voneinander lassen.
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Das Ergebnis ist eine
erfreuliche Komplexität der Figuren, mit denen wir uns je nach
Konstellation der Erzählung unterschiedlich identifizieren können:
kathartisch, wenn wir die Akteure dieses Dramas als schuldlos Schuldige
durchschauen, als Mitverantwortliche am eigenen Schicksal, sympathetisch,
wenn wir mit ihnen als Opfer der Veränderungen mitempfinden und komisch,
wenn sie uns mental als Karikaturen begegnen, als Marionetten kollektiver
Vorurteile. Den letzten Typ der Identifikation hält vor allem der „Epilog“
vor, der, einem esperpento gleich, den Triumph eines „unbeholfenen
Bauern über zwei Persönlichkeiten, bedeutende Historiker und Vertraute
Bismarcks“ (S. 347) inszeniert, indem unser Kaplan, um so den
Eindringlingen aus der Fremde den Blick auf den Ursprung der eigenen
Eliten auf immer zu verstellen, das Objekt ihrer Begierde, das
geheimnisumwitterte Familienarchiv im sogenannten Puppenkabinett, in
Flammen aufgehen lässt, derweil die gewichtigen Herren aus dem
protestantischen Norden, voll des süßen Weins aus Beníssalem, noch ihren
Rausch ausschlafen. |
Ein sehr gelungener, ebenso
aufschlussreicher wie kurzweiliger historischer Roman in der säkularen
Tradition dieser Erzählgattung in Europa und ein sehr mallorquinischer
obendrein, der erste seiner Art in Mallorca von Gewicht! Verständlich,
wenn ihm im Horizont von tremendismo und Neorealismus, den
literarischen Moden in Spanien und Europa zum Zeitpunkt seiner ersten
Veröffentlichung 1956, damals noch auf Spanisch, der Erfolg zunächst
versagt bleibt. Der stellt sich in der Tat erst mit der überarbeiteten
katalanischen Fassung des Romans 1961 und dann 1967 unter Einschluss auch
des „Epilogs“ ein. Spätestens nach der Verfilmung des Romans 1983 von Jaume Chávarri als historisches Drama („una de las películas que Mallorca
nunca olvidará“- Diario de Mallorca 9/10/2007) gehört Bearn o la
sala de les nines zur kulturellen Wegzehrung des gebildeten Mallorca.
Schön, dass der Roman im Piper Verlag seit 2007 nunmehr auch auf Deutsch
zugänglich ist.
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Denn nicht zuletzt die
deutsche Lesegemeinde darf sich hier von der Inszenierung eines markanten
Zuges im Selbstverständnis der mallorquinischen Eliten im Umgang mit dem
Fremden direkt angesprochen fühlen. In den Herren von Bearn findet dieser
Zug exemplarisches Profil: jene in sich ruhende Selbstbespiegelung als
Lebenseinstellung, die sich freilich als trügerisch verrät, sobald sie,
Fieberschüben gleich, von Begeisterung oder Skepsis gegenüber den
Neuerungen aus dem Norden Europas aufgerüttelt wird. Diesen Pendelschlag
zwischen der Sehnsucht nach der erhabenen Ruhe der Insel und der
„faustischen“ (S. 228) Neugier nach Dynamik und Lebensart des Nordens, der
das Leben unserer Helden im Roman taktet, spürt Figaro heutzutage immer
noch in seinen Gesprächen auf der Insel. Dabei mögen die Pole dieser
Unruhe – Paris und Berlin – anders besetzt sein als bei unserem Junker
Toni, aufgeladen aber sind sie immer. Für Figaro hat Literatur sich hier
einmal mehr als verlässlicher Wegweiser in die mentale Landschaft
Mallorcas erwiesen. |
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Ins
fernste Blau |
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Der
historische Mallorca-Roman |
Aus
dem Katalanischen von Petra Zickmann und Manuel Pérez Espejo |
Bergisch-Gladbach: Lübbe 2002 (BLT 92102) 471 S. |
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Die Insel als
Gefängnis, als Ort des Eingeschlossenseins ist – für
urlaubshungrige Touristen schwer vorstellbar – ein
klassisches Motiv der Literatur, auch in der mallorquinisch
katalanischen. Und die geistige Unfreiheit als Merkmal der
Insel, die ihre Bewohner zu Gefangenen ihrer säkularen
Traditionen macht, ist als Topos kaum weniger verbreitet, im
Werk von Carmen Riera gar ein rekurrentes Thema.
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In ihrem 1994
erschienenen historischen Roman Dins el darrer blau – Ins
fernste Blau (auf deutsch zuerst 2000) – findet jenes
fatale Ineinander von Enge und Intoleranz als ein Grundzug
mallorquinischer Geschichte Ausdruck in der Darstellung der
gescheiterten Flucht der Chuetas im Jahre 1688. Der historisch
verbürgte Fluchtversuch dieser mallorquinischen Kryptojuden,
getaufte Christen allemal, die sich aller Repressalien der
Mehrheitsgesellschaft zum Trotz im Verborgenen weiter an
Lebensart und Glauben der Väter klammern, endet nach
jahrelanger Haft in den Folterkammern der Inquisition 1691 für
alle Beteiligten aus dem Ghetto mit Enteignung, Haft und Tod,
für viele auf dem Scheiterhaufen, für die Unbeugsamen bei
lebendigen Leibe. |
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Dass
aus solch sperrigem Thema ein spannender Roman mit beachtlichem
Erkenntnisgewinn werden konnte, ist der virtuosen Erzählkunst der Autorin
geschuldet, die Figaro bereits in dem Roman Der englische Sommer
(2009) oder der Novelle Selbstsüchtige Liebe (1993) bewundert hat,
ihr Geschick, die Abfolge von Zufällen im Nachhinein als Ausdruck
tragischer Notwendigkeit erfahrbar zu machen. |
Kleinigkeiten bringen auch hier den Stein ins Rollen, der sich zur Lawine
auswächst, die alles unter sich begräbt: Die Neugier eines Kapitäns, dem
seine geheimnisvolle Dame einen kostbaren Ring schenkt, weil sie ihn als
Fluchthelfer auserkoren hat, die seelischen Nöte eines Juweliers, eines
chueta, der keiner sein will und der die Herkunft dieses Rings missdeutet,
sowie die Angst eines selbsternannten Rabbiners vor dessen Denunziation
führen zur überhasteten Flucht und so ins kollektive Verderben dieser
Bevölkerungsgruppe, die weder den damaligen Ansprüchen an die „Reinheit“
des Blutes noch der des Glaubens genügt. Dass diese Kette absurder Zufälle
dennoch unausweichlich in die Katastrophe führt, ist mithin der
historischen Konstellation geschuldet, den Mentalitäten, den Denkhaltungen
der Zeitgenossen, ihrem religiösen Fanatismus, dem egoistischen Machtkampf
der Eliten und dem opportunistischen Mitläufertum des Volkes. |
Obwohl
das Ende des Abenteuers vorhersehbar ist, bleibt der Weg dorthin
unterhaltsam und aufschlussreich. 471 Seiten, ohne dass die Aufmerksamkeit
bei der Lektüre erlahmt. Der rasche Wechsel der Erzählperspektive, die
bald die Gruppe, bald einzelne ihrer Mitglieder, mal Opfer, mal Täter vor
den Blick bringt, lässt Längen auch deshalb nicht aufkommen, weil jedes
neue Bild den beklemmenden Gang in die Katastrophe immer rascher
vorantreibt. |
Dann
mag es dem Leser am Ende vordergründig dabei ergehen wie dem Fremden aus
Livorno, der unfreiwillig Zeuge des Autodafés in Ciutat de Mallorca
geworden ist, obwohl er angereist war, das Unheil im letzten Moment noch
abzuwenden: |
„So gut
er kann, versucht er mit Fäusten und Ellbogen seinen Platz zu verlassen.
Er will nur noch weg. Sofort abreisen, weit, ganz weit weg, die Pinke soll
gleich den Anker lichten und sich rasch dort draußen verlieren, weit
draußen, im fernsten Blau.“ (S. 471) |
Wer
indes diesem Schlussbild noch eine Weile nachhängt, kann hinter Wut und
Ekel ob des Geschehenen dank dieser Erzählkunst auch die tiefer liegenden,
zeitlosen Ursachen dieses historischen Konflikts erkennen, das
differenzierte Gemälde eines Machtgefüges, das immer neu und überall auf
der Welt Progrome erzeugen könnte. Ein Gesprächsangebot an die
Mallorquiner, die die Nachfahren dieser Unglückseligen noch über
Jahrhunderte hin marginalisiert haben, gewiss, aber auch ein Plädoyer für Freiheit und Toleranz
an
alle, die es hören wollen, wo auch immer auf der Welt. |
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- Die Kathedrale des Meeres
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Historischer Roman |
Frankfurt
a. M.: S. Fischer Verlag, 7. Aufl. 2010, 652 S. |
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Der Welterfolg La
catedral del mar aus dem Jahre 2006 des Katalanen Ildefonso
Falcones gehört streng genommen als ein spanisch geschriebener Roman
gar nicht in Figaros Leseecke der katalanischsprachigen Literatur.
Eine freilich für die kulturelle Ambivalenz der Literatur
Kataloniens oder auch der Balearen typische Situation: Nicht wenige
– und keineswegs die unbedeutendsten – ihrer Schriftsteller wie
Vázquez de Montalbán, Eduardo Mendoza oder Ruiz Zafón,
publizier(t)en auf castellano, nicht auf catalán oder auch auf
beiden wie Llorenç Villalonga oder Carme Riera – aus welchen Motiven
auch immer. Und doch können ihre Werke unabhängig von der Sprache,
in der sie verfasst sind, die DNA ihres geopolitischen Raumes
tragen. |
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Im vorliegenden Roman ist diese Zugehörigkeit
unverkennbar: ein historischer Roman mit verborgener politischer Botschaft
an das Barcelona unserer Tage, das sich als Hauptstadt einer Union für
das Mittelmeer im Wartestand schon zu neuer Führung berufen fühlt,
abgewandt von Kastilien und offen allenfalls für ein über Frankreich
vermitteltes Europa. Angesiedelt auf dem Höhepunkt
katalanisch-aragonesischer Machtentfaltung im westlichen Mittelmeer im 14.
Jahrhundert legt die Geschichte über Aufstieg und (Beinahe-)Fall unseres
Helden aus dem Volke auch die Schwachstellen offen, die den damaligen
Abstieg Barcelonas in die Bedeutungslosigkeit besiegelten: die Überdehnung
der Macht durch die Schuldenpolitik der Krone, das Versagen der
ständischen Eliten, Adel, Klerus, Patrizier gleichermaßen, nicht zuletzt
auch die ideologische Intoleranz im Namen einer Inquisition, die Werte
fordert, wo sie Geld und Macht meint. Ein historischer Roman mithin mit
Durchblick auf die eigene Gegenwart. |
Und dabei ist ein Buch voller
Zuversicht in die unerschöpfliche Kraft des Volkes, seine Ausdauer und
Kreativität, entstanden, inszeniert in der Art eines Heldenepos, eines
cantar de gesta in Prosa. Zwar steht hier kein Recke aus edlem
Geschlecht im Mittelpunkt, sondern der Sohn eines schollenpflichtigen
Bauern, aber mythisch überhöht als Träger einer wahren Botschaft erstrahlt
auch er, hier einer Botschaft des Maßes und der Mitmenschlichkeit.
Greifbar wird diese Überhöhung in Form eines Gleichklangs im Aufstieg zur
Vollendung zwischen dem Helden und „seiner“ Kirche Santa María del Mar.
Steigt doch die unbeugsame Hauptfigur in dem Maße vom Lastenträger zum
Seekonsul auf wie die Kirche dank der Opferbereitschaft des Volkes als
Emblem einer neuen Ordnung emporwächst. Selbst der lebensbedrohende
Prozess vor dem Tribunal der Inquisition vermag unseren Mann aus dem Volke
nicht zu brechen. Vielmehr findet er die ihm angemessene Rolle als
selbstgenügsamer, gleichwohl wohlhabender und geachteter Kaufmann im
Kreise seiner Familie. |
Gewiss trägt ein solcher
Lebensweg märchenhafte Züge. Aber dies liegt in der Natur des
Heldenliedes. Anders als in der Tragödie sind die Prüfungen des Helden
hier nicht auf Untergang, sondern auf Triumph hin angelegt, nicht auf
Schuld und Sühne zielt die poetische Gerechtigkeit hier, sondern auf
Erbauung und Glorifizierung. Eigene Fehler sind in dieser Logik leicht das
Werk der Anderen: Das Abschlachten wehrloser Bauern im Krieg ist der
Situation geschuldet (S.325), vom Sklavenhandel als Grundlage seines
Reichtums darf unser Held nichts wissen (S.369) und der Verrat an seiner
Ziehtochter mag ihm Ausdruck seiner Gesetzestreue scheinen (465).
Gattungsspezifische Entlastungsstrategien allemal, die nicht nur auf der
Ebene der Geschichte, sondern auch auf der des Diskurses greifen: die
Judenprogrome in Barcelona aus Anlass der Pest waren schlimm, gewiss, aber
ungleich überschaubarer als anderswo in Europa, in Deutschland zumal
(S.348), die Inquisitionsprozesse sind der reinste Horror, aber sie sind
keine Erfindung der Katalanen (S.585) ... |
Wer indes weiß, dass das
Anliegen dieses als Heldenepos konzipierten historischen Romans nicht
Vergangenheitsbewältigung ist, sondern Erbauung, weniger Analyse als
Sinnstiftung, wird sich wie Figaro umso trefflicher unterhalten fühlen, als
die Auswahl der drastischen Wechselfälle im Leben des Helden bei aller
Verklärungsabsicht dennoch schonungslos den Blick auf ein engmaschiges
Netz lebensfeindlicher usatges, eine hochgradig repressive
soziale Ordnung, ebenso freilegt wie auf die Abgründe der menschlichen
Natur im Allgemeinen. |
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Frankfurt
a. M.: Valentia 2007 |
(Mallorca erzählt – Literatur der Balearen 8) 219
S. |
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Was für ein
starkes Buch, wüst und wirr, voller Wut und Ekel, Einsamkeit
und Tod, geschrieben aus der besten Tradition der europäischen
Groteske und der desengaño-Literatur des spanischen Barock
...! Doch der Reihe nach! |
Die Situation
könnte trivialer nicht sein: eine junge Frau mit ihrer
störrischen Tochter unterwegs zu einem nahegelegenen
Strandhaus, wo ihr Liebhaber, der mögliche Vater ihres Kindes,
und seine verhärmte Ehefrau einmal mehr ihren Besuch erwarten.
Doch diesmal werden sie nicht mehr ankommen, weil eine
niederdrückende Sonne ihr Vorwärtskommen vereitelt und die
Wartenden, überrumpelt von ungebetenem Besuch, sich mit dem
Tod konfrontiert finden. Warten und Weg im Zeichen der
Vergeblichkeit aber verleihen diesem 1987 unter dem Titel
Terra seca veröffentlichten
Roman unverkennbar die Signatur der Postmoderne. |
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Trivial ist auch die der
Situation unterlegte Geschichte: die verträumte junge Frau, die sich an
einen älteren verheirateten Mann verliert und von dem sie auch in dessen
Verfall nicht lassen kann. Dass dieser skrupellose Aufsteiger, der auch
über Leichen geht, als korrupter Politiker, als Mafioso des Hotel- und
Baugewerbes im Horizont einer durch und durch bäuerlichen Gesellschaft
daherkommt, weist ihn überdies als Karikatur eines mallorquinischen
Neureichen zu Zeiten von Diktatur und Transició aus. |
Alles andere als trivial indes
ist die Wucht, mit der die diese Geschichte tragenden Emotionen in Form
von Erinnerungsfetzen an die Oberfläche dringen, spontan und
unberechenbar, ungestüm und erschreckend, eruptiv wie Blitze oder stetig
wie Ameisenschnüre aus den Spalten einer verdorrten Erde. Narrativ
inszeniert werden sie aus wechselnden Standpunkten, auktorial, in erlebter
Rede oder innerem Monolog, wobei Vergangenes und Gegenwärtiges als
variierender Reigen des Immergleichen erscheinen. Wir kennen die Wirkung
dieser aus dem nouveau roman und dem boom der
lateinamerikanischen Romanciers bekannten Techniken. Den eiligen Leser
halten sie auf Distanz, den geduldigen, den neugierig gewordenen machen
sie süchtig, ziehen ihn, einem Strudel gleich, in immer verborgenere
Schichten des Geschehenen hinab, wo unvermutet Erfahrungen eines tua
res agitur ihn erwarten könnten. |
Es sind erschreckende Bilder
der Selbstwahrnehmung, Bilder der Ernüchterung und des Verfalls, die in
bester barocker Manier jeden Fluchtweg als Selbstbetrug verstellen.
Aufgefressen von ihren Ängsten und Enttäuschungen versinken die
Protagonisten hier in ihren Erinnerungen, Fremde allemal, die am Trauma
des Erlebten zu ersticken drohen, weil sie sich nicht mitteilen können. In
einer Gesellschaft ohne Empathie – ob zwischen Mann und Frau oder Mutter
und Kind gleichviel – hissen so Einsamkeit und Tod leicht ihr Banner, weil
die Verarbeitung der Leiderfahrung nicht möglich scheint, zumindest
öffentlich keinen Raum findet. Verdrängung macht krank, den Einzelnen wie
die Gesellschaft – aller Boom-Verblendungen zum Trotz. Zugegeben: in einer
solchen Lesart erscheint der Roman als visionäre Warnung an eine
Gesellschaft, die 1987, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung, im Zeichnen
von Transición und EU-Beitritt in ganz Spanien noch von einer Erneuerung
durch Verdrängung träumte. |
Auf der Insel indes sind die
sozialpathologischen Auswirkungen dieses Irrglaubens von besonderer
Brisanz. Droht doch die Insel in solchem Klima leicht zur Falle zu werden,
zum modrigen Verließ, wo traumatische Erinnerungen unter der verdorrten
Erde – versiegelt wie unter einer Grabplatte – zu schwären beginnen. Doch
lesen Sie selbst: |
„Vielleicht hatte sie noch nie
mit solcher Intensität wie heute die Kälte ihrer inneren Wüste gespürt,
einer Art leerstehendes Haus, feucht, unbewohnbar. Ihr wird bewusst, dass
sie es mit saudummen Träumen und falschen Betriebsamkeiten bevölkert hat,
als ob die Möbel, die Dekoration die Frucht einer Verzauberung wären und
gerade eben die Hexe mit ihrem zerstörerischen Besen vorbeigekommen wäre
und alles-alles weggezaubert hätte, kein Bett als Liebeslager, kein Stuhl
zum Ausruhen, kein Herd zum Feuermachen. Gefühl der Machtlosigkeit, der
Begrenztheit des Lebens auf einer Insel, nicht einfach einen Zug besteigen
können und den Kontinent zu durchfahren, andere Leute, andere Sitten. Das
Haus voll bekommen.“ (S. 153) |
Mallorca von innen gesehen. Welch ernüchternder
Blick! |
Und während Figaro diese
Zeilen unter dem unmittelbaren Eindruck der ersten Lektüre niederschreibt,
weiß er bereits, er wird diesen Roman der 1941 in Santanyí geborenen
Autorin – eine Lektüre für Erwachsene – erneut lesen. Aber nicht sobald! |
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Roman aus dem Katalanischen
von Axel Schönberger |
Frankfurt
a. M.: Valentia 2007 |
(Mallorca
erzählt – Literatur der Balearen 4) 248
S. |
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Fast hätte Figaro auf
eine Besprechung dieses 1993 in Barcelona unter dem Titel Un cor
massa madur erschienenen Romans des Mallorquiners Guillem
Frontera verzichtet, bevor sich ihm über das Verständnis der
Erzähltechnik doch noch ein anregender Zugang erschloss. Zu
irritierend schien ihm die schnöde Ichbezogenheit seiner
Protagonisten aus der neuen Führungsschicht der Insel, jener
Generation der Bauspekulanten und reichen Erben, die mit ihren
Befindlichkeiten so provokativ abgehoben scheint von den sozialen
Sorgen und Nöten gerade des heutigen Mallorca. Erst mit der Einsicht
in die Parodiesignale dieser Liebesgeschichte wuchs auch das
Verständnis und das Interesse an der Botschaft dieses neuartigen
Romans. Denn fortan wurde ihm klar, dass genau diese Irritation
gewollt war als Einstimmung für die hier anstehende Operation dieses
auf der Insel allenthalben anzutreffenden Gemütszustandes, eine
Operation gleichsam am offenen Herzen, ein letzter Weckruf für die
selbsternannten Eliten des von „Tourismus und Zuwanderung“ (S.57)
umgepflügten Mallorca. |
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Die Hellsichtigen unter diesen
Privilegierten erkennen zwar wie unsere Protagonisten durchaus die Gefahr,
dass Mallorca sie unmerklich „in sehr schöne Pflanzen verwandeln [könnte]
oder in sehr wertvolle Fossilien“ (S. 234), aber sie finden dennoch nicht
die Kraft, der richtigen Diagnose mit einer geeigneten Therapie
entgegenzutreten, mit einer Therapie zukunftsorientierten,
sozialverantwortlichen Handelns etwa. Dabei schien die kurze Zwischenphase
ihres wieder gefundenen Glücks auf Es Clapers für unsere Protagonisten
bereits die Heilung bereit zu halten (Kap. IX). Doch in dem Maße, wie sie
in diesen Tagen utopischen Träumens ihre Pläne einer Modernisierung des
ererbten Landgutes zur Anlage eines Swimmingpools verkümmern lassen, nur
weil sie nicht bedingungslos zu ihren Gefühlen stehen –
„Parasiten [ihrer] eigenen Liebe“ (S.124) gleich –, bleibt Mallorca einmal mehr
das, als was es bereits Unamuno erschienen war, „ein schönes Land, um
langsam zu altern.“ Und der Ausgang des Buches verheißt da auch keine
Erlösung. Doch lesen Sie selbst: |
„Weißt du, was ich gleich
morgen tun werde?“, fragte sie mich. „Ich werde endlich beginnen, die
Koffer und Pakete zu öffnen. Wirst du mir helfen?“ |
Nach Eintritt der Dunkelheit
sank die Temperatur allmählich, aber ich erwartete einen Herbst mit
einigen warmen Wochen. Vielleicht würden die Bäume uns eine verhaltene und
feine Blüte bescheren, angesichts derer [unsere Verwalter] Madò Margalida
und Amo en Miquel wiederholen würden, dass man noch nie die Kirsch- und
Pflaumenbäume außerhalb ihrer Zeit blühen gesehen habe. Und dann der
Winter (S. 247 f.).“ |
Den Schlüssel zu einer
sozialkritischen Lesart dieser im Kern banalen Liebesgeschichte indes
hielt bei Licht, d.h. bei wiederholter Lektüre besehen, bereits der
Eingangssatz parat, dessen Aussage sich in der Folge wie ein Leitmotiv
durch dieses Buch hindurch zieht: „Seit langem wusste ich, dass ich nie
einen Roman verfassen würde." (S. 7) Eine erstaunliche Feststellung in
einem Buch, das wie kaum ein anderes so mit den Ingredienzien eines
Liebesromans gespickt ist. Angefangen mit der Lebenseinstellung unseres
Protagonisten, der aus enttäuschter Liebe jedes neuerliche emotionale
Engagement zu meiden sucht wie der Teufel das Weihwasser, eine in der Tat
skurrile Art von Ataraxie, wie geschaffen für das indolente Rentnerdasein
unseres Mittvierzigers. Passend zu diesem romanesken Lebensentwurf
erscheinen die zentralen Ereignisse dann wie eine in der Literatur immer
neu durchgespielte Probe aufs Exempel: die Wiederbegegnung mit seiner
einstigen, inzwischen geschiedenen Jugendliebe und die Bekanntschaft mit
deren verheirateter, aber nach kurzer Ehe bereits in Trennung lebender
Tochter. Dass er mit seiner Einstellung gleich doppelt Schiffbruch
erleidet, verwundert den Liebhaber von Romanen oder Fernsehfilmen weniger
als die resignative Apathie, mit der er sich nach seinen jämmerlichen
Niederlagen auch dann noch an seine Philosophie klammert, als diese längst
schon zur sterilen Lebenslüge verkommen ist. Hätte er nicht wenigstens
einmal zu seinen Gefühlen stehen können – wie im ‚richtigen’ Roman! |
Freilich, einen Roman zu
schreiben, hatte unser Ich-Erzähler ja gerade nicht im Sinn. Allerdings
kann seine durchgängige Beteuerung, dass das, was ihm zustößt, kein Roman
sei, in den Ohren eines Kenners von Literatur auch als versteckter Hinweis
auf eine angestrebte Erneuerung der Gattung klingen, geradezu ein
Parodiesignal einer neuerlichen Häutung in der langen Geschichte des
Romans. Und wer wie Figaro diesem Verdacht nachspürt, erkennt bald schon
die Merkmale eines solch neuen Typs, jenen Typ von Roman ohne Handlung in
der von Flaubert einst begründeten Tradition. Es ist dies ein offener Typ
anstelle des romantisch realistischen Illusionsromans, einer, in dem die
Figuren nicht als Angebote zur Identifikation fungieren, sondern als
Sprungbrett zur Reflexion, in dem der Erzähler zu sich selbst wie
zur Welt der Erzählung auf kritische Distanz geht und so das Erzählte
jederzeit auch Gegenstand wissenschaftlicher Analyse werden kann.
|
Was Wunder, wenn dann in
unserem Roman die Erzählung immer wieder hinter dem soziologischen Diskurs
oder dem journalistischen Essay zurücktritt. Dank einer derartig
dramatisierten Anlage der Erzählung werden selbst im Spiegel einer ach so
trivialen Liebesgeschichte die Ursachen für das Leiden der Insel hautnah
im Alltag erfahr- und verstehbar: das Versagen parasitärer Eliten wie der
Defätismus der Gesellschaft gegenüber einer allgegenwärtigen Korruption.
Keine erbauliche Unterhaltung mithin, aber eine Erfahrung, die sicherlich
auch eine wiederholte Lektüre wert war! |
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- Die Stadt
der wehrlosen Spione - |
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Roman aus dem Katalanischen
von Axel Schönberger |
Frankfurt
a. M.: Valentia 2007 |
(Mallorca
erzählt – Literatur der Balearen 7) 524
S. |
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Ein
ausgesprochener Fan von Spionage- oder auch – horribile dictu
– Science-Fiction-Fantasy-Romanen ist Figaro nicht gerade.
Dennoch hat er den vorliegenden Roman, der beides hat, Spione
und eine Wunderdroge, mit Genuss und Gewinn gelesen,
ungeachtet einer eher sorglosen Redaktion und der stellenweise
holprigen Übersetzung des Textes. Der ironischen Grundanlage
der Erzählung sei dank, denn sie lässt Luft zum Schmunzeln und
Nachdenken ohne dabei – und das ist großes erzählerisches
Vermögen – punktuell an Spannung einzubüßen. |
Schon der Titel
La Ciutat dels espies indefensos – Die Stadt der
wehrlosen Spione gibt ein solches Signal ironischer
Distanznahme aus. Was könnte in der Tat quijotesker sein als
die Vorstellung eines Jägers, der zum Gejagten wird, eines
Spions als Bittstellers des Gesuchten (oder eines
Experimentleiters, dem als Getriebener seiner eigenen
Nachstellungen sein Untersuchungsgegenstand durch spontane
Selbstverbrennung abhanden kommt). |
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Dabei
spielen hier die Ereignisse einerseits in Palma, auf der größten
Baleareninsel, die „sich im Laufe der Zeit in ein Lager von Flüchtlingen
verwandelt hatte, Spionen im Ruhestand, die fast zwangsläufig außer Dienst
gestellt waren“ (S.52), gleichsam an der Peripherie der Weltbühne, und
andererseits parallel dazu in Berkeley Kalifornien, im wissenschaftlichen
Zentrum der Welt. Und obwohl einst alles im Zentrum seinen Ausgang
genommen hatte, die Hippiebewegung ebenso wie die Wunderdroge Promise, so
gehen die Impulse der Handlung diesmal mehr von der Peripherie in Palma
aus. Dort ist nicht nur der Erfinder der Droge untergetaucht, der mit
seinem Wissen um deren Gefahren sie vielleicht noch entschärfen könnte,
sondern dort sorgt auch inzwischen der Vertrieb von Promise wegen seiner
todbringenden Nebenwirkung vor allem in den Milieus für Unruhe, wo das
Versprechen von ewiger Jugend und grenzenloser Leistungssteigerung auf
fruchtbaren Boden fällt, im Sport und unter den „gelangweilten“ Rentnern
aus dem Norden Europas (S.15), die nicht selten ihren unerfüllten
Hippieträumen nachhängen. Vordergründig hat die von der wachsenden
Kommerzialisierung der Droge ausgelöste Suche nach dem untergetauchten
prominenten Hippie zwar Erfolg, aber gelöst scheint damit am Ende gar
nichts. |
Ein
typischer Ausgang der New Wave Fantasy: Der Vorgang zu, und alle Fragen
offen. Was wird aus den Protagonisten, aus Bastian, dem Spion aus Holland,
der auf Mallorca sein Glück nicht hat festhalten können, und aus Turijew,
dem marxistischen Psychologen aus Rußland, der in Berkeley vergeblich dem
Traum von einer freien Wissenschaft nachhängt; was wird aus der
todbringenden Droge, die Glück ohne Ende verheißt, was schließlich aus
Mallorca, jenem von den Zentren der Welt um Lichtjahre entfernten Eiland,
das sich zum Biotop für ergraute Glückssucher aus dem Norden Europas
entwickelt zu haben scheint? Es bleiben offene Fragen, vor die uns die
ironische Distanz des Erzählers stellt, gleichsam unser Blick ins Dunkle,
an den uns die dystopische Literatur eines Philip K. Dick oder Aldous
Huxley auch gewöhnt hat. Wer ihn aushält, gewinnt einen neuen Blick auf
die Welt, hier in Sonderheit auf Mallorcas Biotope, etwa auf das „Nest
umherirrender Ausländer“ (S.156), „im Dauerzustand der Muße“ (S.237),
„vaterlandslos und mit einem gewissen Rheuma im Gehirn“ (S.161). – Die
Stadt der wehrlosen Spione wurde gewiss nicht für die residentes aus
dem Norden geschrieben, aber gerade sie könnten Gefallen an diesem Roman
finden, so sie denn selbstkritisch genug sind. |
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- Auf Wiedersehen
im Himmel - |
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Roman aus dem Katalanischen
von Volker Glab |
Frankfurt
a. M.: Valentia 2007 |
(Mallorca
erzählt – Literatur der Balearen 2) 154
S. |
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Romananfänge, die wie
eine Ouvertüre des Romanganzen klingen, haben es Figaro von jeher
angetan: El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha oder
Cien años de soledad, um nur diese beiden zu nennen. Bei
Fins al cel, dem mit dem angesehenen Josep Pla Preis
ausgezeichneten Roman des Menorquiners Pau Faner aus dem Jahre 1997
und der seit 2007 in der ansprechenden Übersetzung von Volker Glab
unter dem Titel Auf Wiedersehen im Himmel dem
deutschsprachigen Leser zugänglich ist, stellte sich ihm bei der
Lektüre der ersten Zeilen diese freudige Erwartung erneut ein: |
„Man schrieb das
Jahr des Herrn 1800. Camprubí, der damals schon dreißig Jahre
alt war und noch nicht mit einer Frau geschlafen hatte, kehrte
gerade vom Schweinefüttern zurück. Unterwegs trällerte er die
Marseillaise, die ein paar Jahre zuvor populär geworden
war. Camprubí war ein derber, dicker Mann, der noch nie aus
dem Dorf herausgekommen war und nur eben aus den Worten des
Pfarrers wusste, dass er auf einer Insel namens Mallorca lebte
und dass es jenseits des Meeres noch andere Inseln gab.“ (S.5)
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In diesen Zeilen entsteht eine Figur mit dem Zeug
zum Stammvater einer robusten Sippe im milden Gegenlicht der Ironie des
Erzählers. Anhand konkreter sinnfälliger Details schafft diese Ironie
Distanz zum Nachdenken über die Natur einer Gesellschaft, die solches
Verhalten generiert. Sie erst bringt die beängstigende Kontinuität des
Lebens zur Ansicht, eines Lebens im Banne der immergleichen Dämonen von
Sexualität oder Geldgier auf einer Insel im Mittelmeer, gleichsam an der
Peripherie des Weltgeschehens und des Fortschritts. Eindreiviertel
Jahrhunderte Einsamkeit in Europa im Zeichen theokratischer Bevormundung
und pseudokolonialer Fremdbestimmung – zwischen dem Ende des Alten Reiches
und dem Todesjahr Francos – so oder ähnlich klingt daher für Figaro, der
sich auf diese Art von Ironie versteht, der verborgene Diskurs dieser
vordergründig oft heiteren Familiengeschichten. |
Welch erschreckende kulturelle Stagnation in der
Tat, die hier – in Cuitadella auf Menorca – hinter der prallen Fülle der
Ereignisse einer Familiensaga zwischen 1800 und 1975 in diesem ironischen
Gegenlicht der Erzählung zur Ansicht kommt! Ob die Männer dieser Sippe
verlottert und faul oder unternehmerisch und erfolgreich daherkommen, ihr
Horizont ist immer derselbe, skrupellos, ohne soziale Verantwortung und
kulturelle Perspektive, eine Parade ohnmächtiger eitler Gockel. Hoffnung,
sie aus der selbstverschuldeten Misere zu befreien, erwarten sie einzig
von der verführerischen Traumgestalt einer schönen Maurin. Ihr folgen sie
bereitwillig, ob ihr Lächeln sie Generation um Generation immer neu vom
Regen in die Traufe führt – etwa von Mallorca nach Menorca gleich zu
Beginn – oder schnurstracks in den Tod, gleichviel. Sie werden aus Schaden
nicht klug. Erst mit dem Tod Francos scheint auch das Verführungspotential
dieser schönen Maurin erschöpft. Denn fortan „konnte niemand mehr die
Männer der Familie Camprubí verführen“ (S. 153). Endlich doch noch ein
Silberstreif am Horizont? Wer die Botschaft hört, der möchte es den
Camprubíes dieser Insel wünschen. |
Eine kurzweilige Lektüre, fürwahr, unterhaltsam und
lehrreich in eins. Für Figaro ist dieses Lesevergnügen nicht zuletzt der
erzählerischen Virtuosität geschuldet. Ein realistischer Roman, der auf
das markante Detail setzt, nicht auf Beschreibungsorgien, mal schockierend
im Stile des tremendismo eines Camilo José Cela, mal verstörend wie
im magischen Realismus der Autoren des Boom, will ihm dieses Werk
durchaus als Zeichen kultureller Kreativität erscheinen: ein Roman eigener
Prägung, entstanden im offenen Dialog mit dem Fremden. |
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Roman aus dem
Spanischen
von Peter Schwaar |
Frankfurt
a. M.: Suhrkamp Verlag 2007 (st
3925) 503 S. |
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Diese Ausnahme
muss sein! Wenn schon die Jury des Premi Nacional de Cultura
de la Generalitat de Catalunya, die in der Vergangenheit
exklusiv auf das Katalanische als Auswahlkriterium setzte, am
6. Juli 2013 über ihren Schatten springt und Eduardo Mendoza
als ersten spanischschreibenden Schriftsteller Kataloniens
auszeichnet, dann sollte er auch in Figaros Leseecke einen
Platz finden können, obwohl diese gerade die oft unterschätzte
katalanischsprachige Literatur einer deutschen Leserschaft
näher bringen will. |
Als Zeichen
dafür, dass die kulturelle Identität eines Raumes auch in
Figaros Augen nicht allein an seiner Sprache hängt und nicht
zuletzt stellvertretend für die vielen europaweit bekannten
Namen, die allein auf Grund der Sprache, in der sie
publizieren, hier noch nicht vorgestellt wurden, - die Manuel
Vázquez Montalbán oder Juan Goytisolo, die Juan Marsé oder Ana
Maria Matute, die Carlos Ruiz Zafón oder Javier Cercas ... –
sei die Aufnahme von Eduardo Mendoza an dieser Stelle
gestattet, obwohl dieser neben einer umfangreichen Produktion
als Romancier und Essayist im Spanischen auf Katalanisch
bisher nur das Theaterstück Restauració vorzuweisen
hat. |
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Die
Auswahl fällt naturgemäß bei einem so erfolgreichen Autor nicht leicht.
Katzenkrieg (2012) – Riña de gatos. Madrid 1936 – böte sich an:
Der Roman ist sozusagen fast noch druckfrisch, 2010 mit dem Planeta
ausgezeichnet, dem nach dem Nobelpreis mit 601000 (!) Euro
höchstdotierten Preis für Literatur und, was noch wichtiger ist, durchaus
repräsentativ für den burlesken Humor des Autors. Dennoch ist die Wahl
auf La ciudad de los prodigios gefallen, einem Roman aus dem Jahre
1986, der auf Deutsch im Suhrkamp Verlag erstmals 1989 unter dem Titel
Die Stadt der Wunder erschienen ist und dort nun in einer neuen
Ausgabe in der Übersetzung von Peter Schwaar seit 2007 als Taschenbuch
vorliegt. Dieses Werk hat den Ruhm des 1943 in Barcelona geborenen Autors
nachhaltig begründet, ist darüber hinaus inzwischen zum Symbol für die
Erneuerung des Romans in Katalonien avanciert und hat doch an Aktualität
nichts eingebüßt. Mit Barcelona als Schauplatz und Protagonist führt
Die Stadt der Wunder zudem direkt in die Herzkammer der Kultur
Kataloniens. |
Im
Mittelpunkt der Handlung steht das Leben eines Mannes aus dem Volke, der
mutig, weitsichtig und skrupellos vom ärmlichen Knaben aus einem
namenlosen Dorf über viele, von den Verhältnissen diktierte Stationen –
vom Laufburschen für die Anarchisten über den gefürchteten Mafioso der
Metropole, den erfolgreichen Kaufmann, hemdsärmeligen Filmproduzenten und
traumwandlerischen Diamantenhändler – zum reichsten und mächtigsten Mann
des Landes aufsteigt. Parallel zu diesem fulminanten Aufstieg verlaufen
die Häutungen der Stadt Barcelona, die sich wegen der Vorbereitung der
ersten Weltausstellung auf spanischem Boden 1888 „im Zustand fieberhafter
Erneuerung“ (S. 9) befindet, als Onofre Bovila dort Fuß zu fassen
versucht. Was für den Halbwüchsigen zum Sprungbrett einer abenteuerlichen
Karriere wird, markiert für die Stadt den kaum weniger atemberaubenden
Aufbruch in die Moderne, voller Brüche und Verwerfungen im Zeichen des
Modernisme, des ökonomischen Booms dank des ersten Weltkriegs in
Europa und der anschließenden Diktatur Primo de Riveras. Zum Ende kommt
diese doppelte Bewegung auf der zweiten Weltausstellung in der Stadt im
Jahre 1928. Denn der spektakuläre Absturz Bovilas an Bord eines von ihm
selbst in Auftrag gegebenen neuartigen Flugobjektes ins Meer vor den Augen
des erwartungsvollen Publikums, das sich zur Eröffnungsfeier auf dem
Gelände des Montjuic drängt, hat indirekt die Destabilisierung der
damaligen politischen Eliten im Gefolge: die Weltausstellung wird zum
Flop, der Bürgermeister verliert sein Amt, der Diktator dankt ab und die
Tage des Königs sind ebenfalls gezählt. |
Ein
auktorialer Erzähler, dessen Gegenwart bisweilen absolut ist, spannt die
beiden Kurven, die des Protagonisten und die des Schauplatzes, zu einer
einzigen Fieberkurve zusammen, gleichsam zum ironischen Miteinander von
Biographie und Chronik. Die Selbsteinschätzung in der Rückschau des
Protagonisten jedenfalls scheint diese Lesart zu bestätigen: |
„Wenn
ich von diesen Dingen spreche, dann nur, weil ich dem Tod ins Auge
geschaut habe und weil ich Angst habe. (...) Nicht meine Taten werfen sie
(meine Zeitgenossen) mir vor, nicht meinen Ehrgeiz oder die Mittel, deren
ich mich bedient habe, um ihn zu befriedigen, um hochzukommen und mich zu
bereichern – das wollen wir alle, und sie hätten genau gleich gehandelt,
wenn sie die Not dazu getrieben beziehungsweise die Angst nicht davon
abgehalten hätte. In Wirklichkeit bin ich es, der verloren hat. Ich
glaubte, wenn ich schlecht wäre, hätte ich die Welt in den Händen, doch
ich habe mich geirrt: die Welt ist schlechter als ich.“ (S. 438)
|
Dank dieser doppelgleisig
inszenierten Erneuerungen von Protagonist und Stadt erscheint die
Hauptfigur gleichsam als burlesker Spiegel der Stadtentwicklung, als
Repräsentant des grenzenlosen Ehrgeizes der Katalanen, Ausdruck eines
frustrierten Strebens nach Anerkennung, einem Streben allerdings, dem in
beiden Fällen die Anerkennung versagt bleibt. Wie die traditionellen
Eliten der Stadt den reichen Onofre Bovila, der sie doch so generös
finanziert, lediglich am Katzentisch ihrer repräsentativen Feste
platzieren, so bleibt das reiche und unbändige Barcelona in den Augen der
politischen Eliten in Madrid allenfalls der ungeliebte Zahlmeister. Und
das mit komplizenhafter Duldung der Großbürger Kataloniens, „vielleicht
weil sie sich im Grunde immer als eine Welt für sich betrachtet hatten,
losgelöst vom Rest Spaniens, den sie trotzdem nicht entbehren mochten oder
konnten oder den man sie nicht übergehen ließ.“ (S.297) |
Das so
durchgängig entstehende ironische Gegenlicht verändert freilich die
Tonlage der Erzählung, lässt diesen historischen Roman als seine eigene
Parodie erscheinen, in dem die Muster unterschiedlicher Gattungen sich
paaren können, um geradezu postmodern die Legitimationskrise des Staates
und seiner Institutionen mit beißendem Humor in ein groteskes Licht zu
rücken. So verschmelzen etwa in der Figur des Protagonisten die
Handlungsmuster des klassischen realistischen Romans mit denen des
Schelmenromans, um die skandalösen Schwachstellen der Gesellschaft
schlaglichtartig zu entlarven: der Streber aus der Provinz, der die
Großstadt als Trampolin seines Aufstiegs begreift und der pícaro,
der Gauner, der als Diener vieler Herren die unterschiedlichsten Schichten
der Gesellschaft mit den Augen eines hungrigen Wolfes durchstreift.
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In der
Verbindung zweier solcher Perspektiven entsteht ein ironisches Zwielicht,
das die Gesellschaft nicht als Widerpart des Helden adelt, sondern sie in
ihren Eliten als absurdes, selbstgefälliges Monstrum bloßstellt: die
Richter – „(sie) schätzten das Recht keineswegs gering, wandten es aber auf
ihre Weise an: ohne große Umstände.“ (S. 150) – die Bürgermeister –
„(...) er war Alkoholiker und verbrachte pro Tag bloß zwei bis drei
Stunden in einem Zustand relativer Klarheit; in dieser Zeitspanne
erledigte er seine Bürgermeisterobliegenheiten durchtrieben und
unredlich.“ (.411) – oder auch die Reichen, die sich im Horizont
allgegenwärtiger Ausbeutung geradezu skandalös ihrer Prunksucht ergeben –
„ Die Frauen musste man fast herunterhieven und ihre Roben waren so lang,
daß die Schleppen immer noch aus den Fiakern rauschten, wenn sie selbst
schon lang in der Glastür verschwunden waren, so daß man hätte glauben
können, ein Reptil besuche die Oper.“ (S. 124) Vom Führungspersonal in der
Politik – König, Diktator, Minister, Diplomaten – gleich ganz zu
schweigen! Keiner zeigt sich seinem Amt auch nur im Ansatz gewachsen und
die Opposition im Untergrund wohl auch nicht: „(...) die Anführer der
subversiven Bewegungen liefen durch die Kanalisation auf der Suche nach
Unterstützung; auf den Schnittpunkten zweier stinkender Kanäle kreuzten
sich die Anarchisten, Sozialisten und Katalanisten, erkannten sich im
grünlichen Licht ihrer Lämpchen, grüßten sich lakonisch und eilten
weiter.“ (S. 404) |
Hohe
Zeiten für Glücksritter vom Schlage eines Onofre Bovila – damals wie
heute. Die Stadt der Wunder ist in der Tat ein ironischer Titel,
kein Loblied auf Barcelona und paradoxerweise doch eine verdeckte Hommage
an die Dynamik dieser Stadt. |
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Roman aus dem Katalanischen von Heike Nottebaum |
und
mit einem Nachwort von Pere Joan Tous |
Berlin:
Transit Buchverlag 2011, 240 S. |
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Der jetzt auf
Deutsch unter dem katalanischen Originaltitel Càmfora
vorgelegte Roman war zuvor bereits in der ebenfalls von Heike
Nottebaum besorgten Übersetzung unter dem Titel Ein Brief
aus der Ferne im Handel. Die Titelkorrektur in der
deutschsprachigen Übersetzung dieses erstmals 1992 auf
Katalanisch erschienenen Romans macht freilich Sinn. Denn sie
gibt dem Ende des Romans seine faszinierende Offenheit zurück,
die der zur Titelerwartung hochstilisierte „Brief (des
Geliebten) aus der Ferne“ unzulässig einzuengen drohte.
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Schließlich ist
die kurze außereheliche Beziehung der weiblichen Protagonistin
Palmira nur eine Episode in dem tiefgreifenderen Prozess ihrer
Selbstfindung als Frau, der mit ihrem Umzug im Schlepptau von
Ehemann und Schwiegervater aus einem kleinen Bergdorf in den
Pyrenäen nach Barcelona einhergeht. Selbst das Angebot ihres
einstigen Geliebten zu einem gemeinsamen Leben aus dem fernen
Caracas schlägt die inzwischen verwitwete Palmira im Gefühl
ihrer neu gewonnenen Eigenständigkeit aus: |
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„Und bevor sie ein Lebewohl
unter den Brief setzte, schrieb sie Josep doch noch ein paar Worte über
diesen Herbst in Barcelona, der so sonnig war und so mild.“ (S.232) |
Mit dieser stillen Huldigung
an ihren neuen Lebensraum endet der Roman. Sie orchestriert gleichsam die
gesellschaftliche Dimension ihrer Selbstfindung. Denn erst hier in der
Metropole, in dem wirtschaftlich aufblühenden Barcelona der 60er Jahre,
das die Fesseln des Frankismus nicht zuletzt unter dem Druck einer
beispiellosen Landflucht zu sprengen beginnt, kann die lebenstüchtige Frau
und Mutter der doppelten männlichen Bevormundung Schritt für Schritt
entwachsen, kann sie sich den Freiraum für ihr wenn auch noch so
bescheidenes Glück erarbeiten, das nicht zuletzt ihrer Tochter einmal eine
bessere Zukunft zu versprechen scheint. |
Ein solch offener Horizont ist in der Tat
unvorstellbar in der archaischen Welt der Raurills, der Familie, in die
Palmira verheiratet wurde. Kein Wunder also, dass ihre beiden Männer bald
schon frustriert aus der Großstadt flüchten, aus verletztem männlichem
Stolz der Schwiegervater Leandre, aus Orientierungslosigkeit der Ehemann
Maurici, ein jeder auf seine Weise entwurzelt und auf der Suche nach der
verlorenen patriarchalischen Geborgenheit ihres Bergdorfes, das uns gleich
zu Beginn des Romans vorgestellt wird: |
„Im Winter ist es kurz nach
sechs schon dunkel. Die Gassen im Dorf, bitterkalt und nur spärlich
beleuchtet, wirken nicht sehr einladend. (...) Auf diese Weise, wie wenn
Wasser tropfen- oder schlückchenweise aufgefangen wird, finden sich dort
(in der Dorfkneipe) gut zwei Dutzend Männer ein. Vielleicht wollen sie
sich einfach ein wenig die Zeit vertreiben, während daheim die Frauen oder
Kinder die Kühe melken. Und wenn sie dann nach Hause kommen, erwarten sie,
dass das Abendessen auf dem Tisch steht. Vielleicht hocken sie aber auch
bei Xau, weil sie sich von den schmutzig grauen, abgegriffenen Karten
angezogen fühlen und von dem Wein, der in kleinen Gläsern ausgeschenkt
wird.“ (S.8)
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In der stickigen Enge des
dörflichen Katalonien scheint die Zeit in der Tat still zu stehen, drücken
ererbte Lebensgewohnheiten bleischwer auf den Horizont der Menschen und
halten so unabweislich wie der Kampfergeruch von Mottenkugeln das
Vergangene als Orientierungsnorm wach. Entlastung von dem oft grausam
despotischen Erbe von Generationen ist hier nicht in Sicht, Aufbegehren
nur als Verzweiflungstat vorstellbar. So wie die Brandstiftung Sabinas,
die nach jahrelangen Demütigungen durch ihren Vater Leandre, der sie
hohnlachend schänden und enterben konnte, aus ohnmächtiger Wut nachts das
verwaiste Haus ihres Vaters anzündet und dabei ohne es zu ahnen ihren Sohn
und Halbbruder Maurici, der sich dorthin unbemerkt in seine Erinnerungen
verkrochen hatte, mit verbrennt. Veränderung bringt aber selbst diese
Wahnsinnstat dem Dorf nicht. Denn nach kurzer Hektik kehren alle zur alten
lebensfeindlichen Ordnung zurück. Daher ist Càmfora als
Titelmetapher der Titeloption Ein Brief aus der Ferne auch
vorzuziehen. Bringt sie doch neben dem offenen Ende auch die
gesellschaftliche Dimension dieses zeitkritischen Familienromans weit
besser zum Ausdruck: die unendliche Mühsal dieses zähen Prozesses der
Selbstbefreiung aus den ranzigen Vorstellungen einer patriarchalischen
Welt, die selbst im Horizont einer dramatischen Landflucht nicht abdanken
will. |
Dieses Grundthema des Romans, dieser in der Tiefe
ablaufende revolutionäre Wandel der Lebensgewohnheiten, kommt nicht
programmatisch laut daher, sondern unmerklich leise im Grau-Alltäglichen.
Selbst die an sich spektakulären Ereignisse der Handlung – der Missbrauch
der Tochter, der Ehebruch Palmiras, die Brandstiftung – bleiben zunächst
abgedunkelt, bis sie über ein Geflecht von Anspielungen nach und nach
erst, dann aber in ihrer ganzen gesellschaftlichen Komplexität und
Tragweite erkennbar werden. Dank dieser Technik solch narrativer Ellipsen,
sowie der plurifokalen, von Person zu Person wandernden Erzählperspektive
und einer raschen, der telenovela abgeschauten Schnittfolge, welche
die Figur im Netzwerk ihrer sozialen Bande inszeniert, öffnet sich der
Unterhaltungsroman zum gesellschaftlichen Archiv, zum Erinnerungsort an
das alte, zum Zeitpunkt des Erscheinens des Romans bereits untergegangene
Katalonien. |
Ausgerechnet das Erscheinungsjahr 1992 war
gewiss eine provokante Einladung zum Verweilen an ihre Landsleute, die im
Glanz der Weltausstellung in Sevilla, der Olympischen Spiele in Barcelona
und der 500 Jahrfeiern der Entdeckung Amerikas überall im Lande den Beginn
einer neuen Zeit feierten, die Rückkehr Spaniens auf die Weltbühne. Sie
hat auch heute im Horizont der hektischen Öffentlichkeit der Massenmedien
nicht an Irritation eingebüßt. Wer die Einladung dieser begnadeten
Schriftstellerin indes annimmt, wird reich belohnt. Er begibt sich nicht
nur auf eine Entdeckungsreise besonderer Art, sondern wird auch nach
wenigen Seiten schon der wohltuenden Wirkung ihrer Erzählweise zur Entschleunigung gewahr und kann sich dann dem Zauber ihrer Sprache
überlassen. |
Einige wenige Beispiele nur
seien uns vergönnt. So können die Leser die lastende Langeweile des
entthronten Dorfpatriarchen in der Großstadt, die würgende Beklemmung des
durch den Umzug in die Stadt entwurzelten Erben des väterlichen Hofes oder
die störrische Unerschrockenheit der immer mehr auf eigenen Füßen
stehenden Ehefrau und Mutter in ebenso einfachen wie einprägsamen
Sprachbildern geradezu sinnlich nachempfinden. Hören wir einen Moment
hinein:
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„Auf seinen Spaziergängen
nimmt er (Leandre) vor allem die Kneipen in Augenschein. Oftmals hängt ein
mit grellen Farben bemaltes Blechschild über, neben oder mitten auf der
Tür. Coca-Cola. Er wirft einen Blick hinein und sagt sich, das hier
bestimmt gezockt wird. Die Karten bringen ihn auf andere Gedanken, wenn er
spielt, vergeht die Zeit wie im Flug, all die viele Zeit, von der er nicht
weiß, wie er sie totschlagen soll und die zuweilen so schwer wiegt wie ein
mit Getreidesäcken überladener Karren.“ (S.22)
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„Plötzlich war es völlig dunkel um Maurici herum,
seine Ohren dröhnten, und im selben Moment überkam ihn das Gefühl, gleich
ersticken zu müssen. Doch dann leuchtete das spärliche Licht einer
Glühbirne auf, und die Dinge kehrten mehr oder weniger an ihren Platz
zurück. Aber irgendwie war da immer noch dieses beklemmende Gefühl, das
sich um seinen Hals schlang wie die Weinrebe um ein Spalier.“ (S.40) |
„Palmira lauschte seinen
(anklagenden) Worten wie einem auf das Vordach prasselnden Regenschauer im
Sommer, von dem man gleich weiß, dass er weiter nichts als ein paar
Staubkörner auf der Straße aufwirbelt, aber kein einziger Tropfen davon
bis unters Dach spritzen wird. Sie hörte ihn reden, und war innerlich doch
weit entfernt, zu sehr hatte er in der letzten Zeit ihre Selbstachtung mit
Füßen getreten, es war, als würde in der vertrauten Gestalt ein Fremder zu
ihr sprechen.“ (S.84) |
Beispiele wie diese vermitteln einen Eindruck von
der zielgerichteten Sprachgewalt, mit der uns Maria Barbal auf eine
Entdeckungsreise durch das archaische Katalonien führt, eine Odyssee, die
mit dem Roman Wie ein Stein im Geröll ihren Anfang genommen hatte,
um über Stationen wie Inneres Land oder Emma nunmehr mit
Càmfora einen weiteren glanzvollen Höhepunkt zu erreichen. Aber wo es
auch sei, bei Maria Barbal zu verweilen, lohnt sich immer.
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Roman aus
der katalanischen Provinz, |
aus dem Katalanischen von
Kirsten Brandt |
Zürich:
Ammann Verlag 2007, 283 S. |
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Josep Pla ist für
Figaro, den Liebhaber von Romanen, eine Entdeckung besonderer
Art. Denn Josep Pla erweist sich hier als Meister in der
Zeichnung der „Geringfügigkeiten“ des Alltags (S. 44), ein
Zeichner des Grau-Alltäglichen ohne die angestrengte Suche
nach dem Auffälligen und Sonderbaren, also ohne den Stoff, aus
dem Fiktionen meistens sind. |
Daher ist der
Untertitel der deutschsprachigen Ausgabe von El Carrer
Estret „Roman aus der katalanischen Provinz“ auch eher
irreführend. Schließlich erwartet uns hier keine Geschichte,
sondern eine Abfolge von Episoden, keine Handlungsträger,
sondern Mitbewohner des kleinen Dorfes Torelles, aus dem es
nichts Auffälliges zu berichten gibt. „Das Leben in Torelles
ist sehr grau, es gibt keinerlei Abwechslung, keine Höhen und
Tiefen.“ (S. 124) – wie der Ich-Erzähler aus eigener
Anschauung weiß. Und gerade diese Ereignislosigkeit, das
Fehlen der „großen Dinge“, hinter denen „absolut nichts
steckt“ (S. 44) lässt ihn gleichsam als Chronist des
Alltäglichen zur Feder greifen. |
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Das Ergebnis des 1953 im
Original erschienen Buches sind detailgetreue Bilder des Dorflebens in
Katalonien um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, zusammengehalten durch
den Ort, genauer gesagt die enge Dorfstraße und die beiden Beobachter des
dörflichen Alltags, den Ich-Erzähler und seine Haushälterin. Ein in seiner
Unterschiedlichkeit latent komisches Kontrastpaar: der junge, unerfahrene
und eher wortkarge Tierarzt aus Barcelona und seine alteingesessene,
neugierige und lustvoll tratschende Francisqueta, amüsiert distanziert der
Erzähler, leidenschaftlich involviert die Kochhilfe. |
Bei dieser Anlage wird klar:
dieses Buch will nicht in einem Zug verschlungen werden, bietet es doch
keinerlei Ob-überhaupt-Spannung. Es lädt aber zum Verweilen ein, zum
wiederholten Lesen jedes einzelnen seiner 41 Kapitel, jedenfalls den, der
sich wie Figaro dem Reiz der diskreteren Wie-Spannung überlässt. Mit der
Frage: "Wie erscheint in diesem doppelten Spiegel das graue, ereignisarme
Dorfleben? Wie werden all diese „Geringfügigkeiten“ in Szene gesetzt,
so dass sie uns ansprechen und in Erinnerung bleiben?" glaubt Figaro einen
Schlüssel zum Verständnis des Buches in Händen zu halten, den ihm die
Vorstellung von Roman eher verstellt hätte. |
Was Figaro als harmonisches
Gemälde in seiner Belanglosigkeit sicher langweilen würde, kann als
offenes Archiv minutiöser Skizzen des dörflichen Alltags durchaus seine
Neugier erregen, ihn anhalten, genauer hinzuschauen. Und in Enge Straße
wird solche Neugier in der Tat reich belohnt. Denn hinter der erwarteten
Idylle erscheint überraschend eine lieblose Welt unsolidarischer
Vereinzelung, leuchten realistische Schlaglichter des Ungeselligen auf -
und zwar durchgängig, gleichsam als Grundzug dörflichen Lebens. Ob in der
Familie oder in der Ehe, selbst beim Liebeswerben, ob bei der Arbeit oder
in der Freizeit, zwischen Gleichaltrigen oder im Umgang der Generationen
untereinander, immer wartet bei Licht besehen dieselbe ernüchternde
Erfahrung. |
Selbst der Stammtisch, der
Ort, an dem doch eigentlich die Geselligkeit Programm ist, macht da keine
Ausnahme. Ein ganzes Kapitel ist dieser überraschenden Erkenntnis
gewidmet. Schauen wir einen Moment genauer hin: |
„Der Stammtisch im Recreatiu
war mir bald – eigentlich schon vom ersten Moment an – zuviel. |
Dieser Stammtisch ist ein
typisches Phänomen des Dorflebens: Da sitzen ein paar Herren zusammen, die
alles wissen, die beängstigend klug sind und denen es genügt, einander
zuzuzwinkern, um sich in einer Art geheimem Einverständnis über alles
auszutauschen. Die Intelligenz dieser Herren ist Bauernschläue. (...)
|
(...)Jeder ist ein
Schlauberger. Stets weiß jeder alles. Natürlich ist ein Dialog in einer
solchen Gesellschaft unmöglich. Worüber sollten sich in Gottes Namen auch
Leute unterhalten, die a priori alles wissen? Sie können sich über
nichts unterhalten. Darum besteht fast unser gesamtes gesellschaftliches
Leben darin, einander zuzuzwinkern. |
(...) |
Dies erklärt vielleicht
ansatzweise, warum unser Leben so voller Einsamkeit ist, so voller
störrischer Individualität. Unsere Einsamkeit ist derart unermesslich,
derart stark, dass der Moment kommt, in dem wir nicht weiter nach
Erklärungen für sie suchen und sie als naturgegeben hinnehmen. (...) |
Wenn nun diese unsolidarischen
Gemüter irgendwo zusammenkommen – zu einem Stammtisch, zum Beispiel –, ist
ihre Bindung immer fragmentarisch, sporadisch, weil der einzige Zweck der
Begegnung ist, sich einer Marotte hinzugeben“ – dem Kartenspielen,
Briefmarkensammeln, einem gemütlichen Tratsch, gleichviel. (S. 219 ff.) |
So ernst, so philosophisch wie
in diesem Essay (Kap. 33) ist der Ton freilich nicht immer. Häufiger noch
bringt der detailversessene Beobachter das Skurril – Alltägliche, das
Groteske im Verhalten der Zeitgenossen oder in deren Erscheinungsbild zur
Anschauung: die sporadische, aber umso leidenschaftlichere Liebe zur
Schauspielkunst des ansonsten eher biederen Uhrmachers Massaguer (Kap.
IX), die Sturheit, mit der die alte Marystany die eine kostbare Matratze
der Familie für ihren jüngeren Sohn jedes Mal umbettet, wenn dieser mit
seiner Frau zum Dorffest nach Hause zurückkommt (Kap. XV), die
bevormundende Fürsorge des Frisörs, der sich besserwisserisch einen
gesunden Backenzahn ziehen lässt, um seiner Frau die Angst vor dem
Zahnarzt zu nehmen (Kap.), die verschämte Zähigkeit, mit der Senyora
Riteta heimlich die Pferdeäpfel von der Straße für die Blumen in ihrem
Hinterhof zusammenkehrt (Kap. 20) oder die Affenliebe, mit der
Joan-wie-spät-es-ist seinen jungen Esel verhätschelt (Kap.23) sind nur
einige Beispiele dieser Neugier unseres Erzählers. |
Und angesichts dieser
Beispiele wird klar: Ungeachtet der im Vorspann auch von Josep Pla
bemühten Spiegelmetapher – Der Roman ist ein Spiegel, der eine
Landstraße entlangspaziert – , die durch Stendhal Berühmtheit erlangt
hat, weil sie dort das Aufblühen des realistischen Romans zu Beginn des
19. Jahrhunderts markiert, erinnert die Schreibart in Enge Straße
weit eher an die Strategien der diesem Romantyp vorangegangenen Moralistik
der Franzosen, an deren Essay-, Anekdoten- und Portraitsammlungen in der
Absicht einer vorurteilsfreien Charakterisierung von Eigenheiten und
Schwächen der menschlichen Natur. Und nicht selten beschließen hier wie
dort Pointen, die gleichermaßen zum Schmunzeln einladen wie nachdenklich
stimmen, die einzelnen Bilder – so wie im Falle des Ehepaares, das sich
nach heftigem Streit entschließt, weiter zusammen zu leben, indem es
getrennte Wege geht: |
„Am darauffolgenden Sonntag
ging Simoneta mit einer Freundin ins Kino. Joaquim verbrachte den
Nachmittag kartenspielend im Café. Francisqueta meint, wenn der Herrgott
den beiden Gesundheit schenkt, wird diese Ehe für den Rest ihres Lebens
halten.“ (S.62) |
Neben der die Bilder
abschließenden Pointe verfolgt das groteske Portrait dieselbe Absicht
nachdenklich amüsierter Distanznahme. Die affektierte, vertrocknete
Jungfer Remei, die Nacht für Nacht im Traum von einen jungen Burschen in
ihrem Schlafzimmer aufgesucht wird und die dicke Kneipenwirtin, die
stoisch auf die ausbleibenden Kunden wartet, mögen hier als Beispiele
genügen. |
„Senyoreta Remei ist etwa
fünfundvierzig Jahre alt. Sie ist groß und hager, und ihre ausgedörrte
Haut ist bleich, von einem hellen, erdigen Ton. Sie hat pechschwarzes,
dichtes, lockiges Haar, eine schmale Nase und einen Mund mit dünnen,
geraden, beinahe violetten Lippen. Ihre Zähne sind klein, spitz, aber
glanzlos. Das Überraschendste an ihrem Gesicht sind die Augen: zwei große,
runde, glänzend schwarze und erstaunlich unruhige Augen, die immer hin und
her sehen, so dass man schon vom bloßen Zusehen müde wird. Über diesen
flinken Augen wölben sich dichte Brauen und eine schmale, nervöse Stirn
voller kleiner Falten, eine gealterte, erschöpfte Stirn. Senyoreta Remei
trägt ein marineblaues, maßgeschneidertes Kleid und ein ziegelrotes
seidenes Halstuch. Ungeachtet ihres Alters liegt in all ihren Worten und
Gesten eine gewisse altmodische Koketterie.“ (S. 111 f.) |
„Wenn ich auf der Straße an
dem Lokal vorbeigehe, werfe ich manchmal einen Blick hinein. Der Anblick,
der sich mir bietet, ist immer der gleiche: Ich sehe eine dicke,
schwarzgekleidete Frau auf einem Stuhl sitzen, den Arm auf einen der
hinteren Tische gestützt, die Wange in die Hand gelegt. Über dem dunklen
Fleck des Kleides, das durch den roten Vorhang noch schwärzer wirkt,
schimmert ein blonder Kopf mit blauen Augen und leicht öligen Speckfalten.
Unter dem Kleid ragen zwei Beine hervor, prall wie Karnickelbäuche, die in
schwarzen Pantoffeln enden. Diese Frau ist die Kneipenwirtin. Sie ist
Witwe. In der fast ständigen Leere der trüben, einsamen Taverne sieht es
aus, als ob sie träume. Stundenlang sitzt sie in der gleichen Position,
den nackten Arm auf die Tischkante gestützt, den geneigten Hals
hineingelegt, und von der Straße aus ist kaum zu erkennen, ob sie schläft
oder wacht. Ein erloschenes Stimmengewirr scheint sie zu umschwirren –
eine tote Taverne.“ (S. 162) |
Es sind Portraits wie diese
und amüsierte Pointen, nachdenkliche Essays und skurrile Anekdoten, die
den Reiz dieses Buches ausmachen. Ein schier unausschöpfliches Panoptikum
des Dorflebens im Katalonien des 20. Jahrhunderts, zumindest für den, der
sich die Muße gönnt, sich dem Zauber einer Schreibart zu überlassen, die
mit ihrer überbordenden Fülle realistischer Details gleichwohl pointiert
die genuine Ungeselligkeit des Lebens auf dem Dorf und die generelle
Nichtigkeit des Daseins vor Augen stellt, die ihn im Einerlei des
dörflichen Alltags gelegentlich unvermittelt anspringt. Und vielleicht
hält er es dann mit dem Erzähler, der in solchen Situationen grundsätzlich
wird: |
„(...) manchmal, vor allem an
den Abenden, an denen die Tramuntana kräftig weht, reagiere ich heftiger
und frage mich mit einer gewissen inneren Empörung: Kannst du einfach so
hinnehmen, zwischen diesen mechanistischsten Formen der Banalität, der
Lächerlichkeit gestrandet zu sein? Muss sich das ganze Leben, das ein
Mensch verströmt, tatsächlich auf diese Trägheit, diese tragische
Passivität beschränken?“ (S. 101) |
Welch willkommene, welch
erholsame Lektüre diese nachdenklich leise Prosa von Josep Pla inmitten
all der wichtigtuerischen Schaumschlägereien im Medien- und Kulturbetrieb
unserer Tage! |
Kein Zweifel: Enge Straße
macht Lust auf mehr. Und wer wie Figaro das 2007 in der Bibliothek
Suhrkamp erschienene Graue Heft oder jenes andere Buch Der
Untergang der Cala Galiota: Geschichten vom Meer, im selben Jahr bei
Berenberg erschienen, gelesen hat, beginnt die Bedeutung dieses 1981 im
Alter von 84 Jahren verstorbenen Schriftstellers und Journalisten für die
Erneuerung der katalanischen Sprache und Kultur zu erahnen. Sie lässt sich
für das deutschsprachige Lesepublikum angesichts des Gesamtumfangs seines
Werkes von über 30000 Seiten in der Tat nur erahnen. Aber die ihm
zugänglichen Titel reichen durchaus aus, zu verstehen, warum Josep Pla bis
heute zu den beliebtesten Autoren der neueren katalanischen Literatur
gehört. |
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Aus
dem Katalanischen übertragen
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von Fritz Vogelgsang |
Frankfurt a.M.: Vervuert 1985, 156 S. |
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Die Begegnung mit
diesem zweisprachigen Gedichtband verdankt Figaro, der
ansonsten freiwillig nur selten zur Lyrik greift, eher dem
Zufall. Das schmale Bändchen war seit Jahren beim
Frühjahrsputz hinter einem Stapel spanischer Bücher wieder
aufgetaucht und sah schon reichlich vergilbt aus, als er es in
die Hand nahm. Doch der suggestive Titel weckte seine Neugier. Und
sie wurde nicht enttäuscht. |
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El brau,
en l’arena de Sepharad, / envestia l’estesa pell / i en fa,
enlairant-la, bandera. |
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Was für eine
fulminante Eröffnung, welch provokantes Bild über den Zustand
des Landes gleich zu Beginn! |
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Der Stier, in der Arena Sepharads,
griff die ausgebreitete Haut an,
und emporschleudernd, macht er sie zur Fahne.
Gegen den Wind gehißt, ist diese Stierhaut,
die Haut des blutbedeckten Stiers,
jetzt ein vom Gold der Sonne aufgeblähter
Lappen, ausgesetzt für immer der Marter
der Zeit, unser Gebet
und unser Lästerfluch.
Opfer und Henker zugleich,
Haß und Liebe, Wehklage und Gelächter,
unter der tauben Ewigkeit des Himmels. (I, S.9)
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Zugegeben: ein auf den ersten Blick befremdlicher
Text, für den Fremden und Zeitgenossen von heute zumal. Für den Spanier
hingegen, insbesondere für den Zeitgenossen um 1960, dem Erscheinungsjahr
dieses Gedichtzyklus, eher eine leidvolle Erfahrung. Schließlich erkennt
er den Stier sofort als Beinamen seines Landes und in der ausgebreiteten
Stierhaut die geographischen Konturen Spaniens. Und er weiß auch, dass Sepharad der hebräische Name für Spanien ist und vielleicht auch dass
dieser Name seit 1492, dem Jahr der Vertreibung der Juden aus seinem Land,
immer auch mit Gewalt, Unterdrückung und Intoleranz konnotiert wird. Vor
allem aber weiß er aus eigenem Erleben, was es heißt, wenn der Stier
selbstzerstörerisch seine Hörner gegen sich selber richtet. Zu hautnah
berühren ihn die Schrecken aus Bürgerkrieg und Diktatur noch immer. Immer
noch ist er „Opfer und Henker zugleich“ jenes dreisten Gestus der
Eroberung. |
Der Bruderkrieg und der
Triumphalismus der Sieger hatten damals in steriler Polarisierung das
Leben zum Erliegen gebracht – im ganzen Land. Eine ausweglose Situation,
solange Hass, Hunger und Angst die Herzen lähmen. „Wenn du nur dich
verrennst / in die Nacht deines Hasses, / irres Pferd, Sepharad, / werden
Peitsche und Schwert / stets über dich herrschen.“ (V, S.15)
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Es ist eine schonungslose und
schmerzhafte Diagnose über die Leiden des Landes, die diese 54 Gedichte
des Zyklus, die sich wie ein episches Langgedicht lesen, dem damaligen
Spanien stellen. Eine engagierte Reflexion über die Zukunft des Landes,
ein Nachdenken freilich von der Peripherie des Landes, nicht von Madrid
aus. Denn ohne die Anerkennung der kulturellen Vielfalt des Landes kein
Heil: „Ja, begreif sie und mach auch du sie dein, / von den Ölbäumen aus,
/ die hohe, schlichte Wahrheit der eingefangenen Stimme des Windes: /
‚Verschieden sind die Sprachen und verschieden sind die Menschen, / und es
werden viel Namen der einen Liebe dienen.’“ (XXX, S.77) |
Und mit dieser Erkenntnis
öffnet sich die Diagnose mehr und mehr zur erfolgversprechenden Therapie,
zur Ermutigung, das neue Sepharad zu bauen: „Sorge, daß fest gebaut sind
die Brücken des Gesprächs, / und trachte zu begreifen und zu lieben / die
verschiedenen Denkweisen und Sprachen deiner Kinder.“ (XLVI, S.121) Kein
Selbstläufer freilich ist diese Therapie, sondern ein mutiges Wagnis der
Freiheit für jeden Einzelnen – unter der Diktatur allemal: |
„Und du, Mensch der jetzigen
Tage / von Sepharad. / lebe nicht mehr den Tod / einer feigen Ruhe, / wag
es, dich zu befreien / von deinem Übel. / Durchschiff die Schicksalslaunen
des offenen Meeres / und laß erleuchten dich von den Strahlen des Blitzes.
/ Fern vom sicheren Hafen / wirst du / in Hoffnungswassern / abwaschen all
das Blut / dieser zertrampelten / Stierhaut.“ (XLVII, S.123) |
Mit solchem Mut zum
widerständigen Wagnis öffnet sich endlich ein langer, dorniger, aber
gangbarer Weg zu einem lebenswerten Spanien:
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Nichts weiter wollen wir,
mit demütiger
Hoffnung,
nichts als
die ewige Fülle
der Rose,
erfüllte Ewigkeit
des Blühens. |
(...)
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So haben wir sorgsam
die Flüsse und die Gebirge durchmustert,
die öde Hochebene und die Städte,
und haben jeden Traum
ihrer Menschen geträumt.
Wir sind mit dem Wind
in den Feldern gewesen, in den Wäldern,
in dem Rauschen der Blätter und der Brunnen,
und schreiben nun
auf diese ausgebreitete Haut,
auf ein verhohlenes und unsterbliches Herz
in Ruhe, Zug um Zug,
den Namen Sepharads. (LIV,
S.137 f.)
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Die Lektüre von Stierhaut ließ Figaro
nachdenklich zurück. War die Botschaft dieses Gedichtszyklus nicht immer
noch aktuell, 75 Jahre nach Endes des Bürgerkrieges und fast vier
Jahrzehnte nach Ende der Diktatur? Doch könnte sie heute, am Vorabend des
angekündigten Referendums über die Unabhängigkeit Kataloniens, noch Gehör
finden? Figaro jedenfalls hat die Lektüre nicht bedauert, der Botschaft
und der Kraft seiner Sprache wegen.
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Allerdings ist der Zugang zu
dieser Botschaft schon materiell nicht ganz leicht. Mit etwas Glück
gelingt es antiquarisch über das Internet. Kostspieliger wird es über die
zweisprachige, 2007 im S. Fischer Verlag herausgegebene dreibändige
Ausgabe seiner Werke in der kongenialen Übersetzung von Fritz Vogelgsang. Wer dazu greift, hält dann aber auch das lyrische Gesamtwerk
eines Dichters in Händen, den Kenner zu den ganz Großen in Europa zählen.
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- Joana und andere
Gedichte - |
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Aus
dem Katalanischen von Juana und Tobias Burghardt
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Stuttgart: Edition Delta 2007, 175 S. |
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Die Begegnung mit diesem Buch verdankt Figaro der Empfehlung einer
guten Freundin, die selbst den frühen Tod ihres Sohnes zu betrauern
hatte. Trauerarbeit ist auch das Anliegen dieser Gedichtsammlung, in
welcher der 1938 in Sanaüja in Katalonien geborene Dichter,
Architekt und Universitätsprofessor Joan Margarit eigene
traumatische Erschütterungen zur Sprache bringt: den Kindstod seiner
Tochter Anna im 1. Lebensjahr und das Leben der kranken Tochter
Joana, die am Rubinstein-Taybe-Syndrom litt und dreißigjährig an
Krebs verstarb. |
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Der
Band gliedert sich in zwei Teile. Der erste vereint unter dem Titel
Joana neben einem Prolog 35 Gedichte, die in den letzten acht Monaten
vor Joanas Tod im Angesicht ihres Todeskampfes geschrieben wurden. Und der
zweite versammelt unter Andere Gedichte 41 Gedichte von den
Anfängen bis heute, verbunden auch sie mit dem Kampf gegen das mit der
Verlusterfahrung einhergehende Vergessen. |
Selten
hat ein Gedichtband Figaro so angerührt wie Joana, der Thematik
wegen nicht allein, sondern auch dank seiner Sprache, die gleichermaßen
direkt wie diskret ist und dabei ungemein intensiv. Ob es um diesen
fragilen Körper geht, der „von Plünderung verwüstet“ dem Tod entgegeneilt
(„Plünderung“, S.41) oder um glückliche Momente wie das Lachen des kranken
Kindes („U-Bahnstation Fontana“, S.25), und nicht zuletzt und immer
wieder um das tiefe Erschrecken beim Versagen der eigenen Erinnerung
(„Vater und Tochter“, S.27), gleichviel. Dieses unablässige Ringen gegen
den zweifachen Verlust des geliebten Menschen durch Tod und Vergessen
wirkt unvermittelt und authentisch. |
Ein
herzergreifendes Requiem mithin für die geliebte Tochter, ganz ohne
Rührseligkeit oder christliche Heilserwartung. Denn der Abgrund, der sie
trennt, „ist der Abgrund des Nie wieder.“ („Vorwort“, S.10) Und so
schreibt er gegen die würgende Erfahrung des Verlassenseins an, um so mit
jedem Gedicht „das Gebiet des Todes (neu zu) markieren.“ („Vier Uhr in der
Frühe“, S.21), obwohl der „Spiegel der Erinnerung (doch schon) so leer
(ist)“ („Die Gegenwart und Forès III, S.73). |
Mit
Joana ist dem in Katalonien vielfach ausgezeichneten Dichter Joan
Margarit ein ernstes und ehrliches Buch über die Verarbeitung der
Todeserfahrung gelungen, das seine Leserin wie seinen Leser gestärkt
zurücklässt. Das letzte Gedicht in dieser Sammlung sei daher hier als
werbender Beleg wiedergegeben: |
Auf dem Grund der Nacht
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Die Luft gefriert.
Sogar die Nachtigall
schweigt still.
Mit der Stirn an der
Fensterscheibe
bitte ich meine beiden
toten Töchter
mir zu verzeihen, weil ich
kaum mehr an sie denke.
Die Zeit hinterließ
trockenen Lehm
auf der Wunde. Und trotz
aller Liebe
beginnt das Vergessen.
Das Licht hat die Härte
der Tropfen,
die bei Tauwetter aus der
Zypresse fallen.
Ich lege ein neues
Holzscheit, bewege die Asche,
und die Glut flammt wieder
auf. Ich mache Kaffee.
Eure Mutter kommt aus dem
Schlafzimmer
mit einem Lächeln: Wie
gut es duftet.
Du bist heute morgen
sehr früh aufgestanden.
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Bleibt
noch der Dank an die Übersetzer Juana und Tobias Burghardt sowie an den
kleinen Literaturverlag Edition Delta, die den in Katalonien
vielbeachteten Dichter endlich auch einem deutschsprachigen Publikum auf
einem solchen Niveau zugänglich machen.
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Katalanisch
–
Deutsch, übersetzt von Sven Limbeck |
Berlin: Elfenbein Verlag 2007, 113 S. |
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Figaro, der sich selbst für einen Romanliebhaber hält, ertappt sich
selbst immer häufiger dabei, dass er Gedichtbände nicht aus der Hand
legen kann, sobald Vision oder Sprache dieser Texte ihn fesseln. In
dem zweisprachigen Bändchen des 1968 geborenen Autors, seines
Zeichens Semitist und zeitweilig Dozent für Hebräisch und Aramäisch
an der Universität von Barcelona, ist beides der Fall: Die
Erinnerung an Sehnsuchtsorte außerhalb unseres Kulturraumes
verdichten sich hier zu eindringlichen Bildern, die Figaro immer neu
diesen Band zur Hand nehmen lassen. |
Das
„Der Zug nach Bagdad“
El tren de Bagdad
betitelte Gedicht, ein Langgedicht in freien Versen,
das auch der Sammlung insgesamt den Titel gegeben hat, liest sich
gleichsam als Erinnerungsprotokoll an einen solchen Sehnsuchtsort des
Begehrens. Ein Begehren, das durch das „sachte Rütteln in der Metro“ (S.9)
in Barcelona in Gang gesetzt wird und das bis zum Erreichen der
Zielstation Vallcarca in dieser „Winternacht“ (S.41) in der Erinnerung die
Stationen einer Reise von Aleppo in Syrien nach Bagdad neu durchleben
lässt. |
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Aufgeladen wird die Erinnerung durch die vertraute Welt in Europa, kalt,
finster, funktional, eine Kultur der Triebverdrängung, die als Gegenpol
zurückbleibt, zugunsten einer Kultur explosiver Lusterfahrung im Orient,
heiß, hell und sinnenfroh inmitten archaischer Ödnis: Dair az-Zaur (S.17),
Abu Kamal (S.23), Ramadi (S.31), Bagdad (S.37), der immer neue
Oaseneffekt. „Dass es in der Wüste nicht regnet,/ ist eine Lüge.“, lautet
daher ein rekurrenter Vers.
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Mithin
jederzeit möglich die lustvolle Begegnung: „Die Liebe ist auch eine Art
von Geschwindigkeit:/ mit der Liebkosung bricht aus einer monotonen/
Landschaft des Nichts/ plötzlich das Grün von Gärten/ mit Zisternen und
auf den Gipfel der Palmblüte/ Stimmen, wie wenn der weiße Ibis sich zum
Flug erhebt.“ (S.11)
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Erleichterung freilich bietet letztlich auch dieses „goldene Band aus
Erinnerungen“ (S.35) nicht. Zu verschieden ist das Erinnerte der Reise von
den Zwängen der Gegenwart in Barcelona, zu abgrundtief anders war die
Wildheit des wahren Lebens von den Formen geregelten Daseins zuhause: „ist
es möglich, in die begrenzte Erinnerung einzuschließen/ die
Geschwindigkeit der Muskeln des Geparden?/ Passen in die Stadtschuhe, die
du trägst,/ die Satyrhufe, die du hattest?“ (S.39)
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Erlösung ist da nicht in Sicht, nicht durch die Erinnerung und durch die
Sehnsucht auch nicht:
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„Die
Sehnsucht ist ein Fisch der sich windet/ im spitzen Schnabel eines
Kranichs./ Vergeblich nimmst du Zuflucht bei einem Feuer,/ das alles
verbrennen muss:/ du bist das Brennholz der kalten Zukunft/ anderer.(...)“
(S.41) |
Nach
den Worten des Dichters Francesc Garriga spricht diese Gedichtsammlung
insgesamt „von einer Reise zum Begehren, zur Hoffnung, zur Illusion, zur
Liebe“ (Klappentext), gewiss! Von einem ganz und gar despotischen Begehren
– „(...) das Begehren nicht zu erfüllen,/ heißt das Meer von den Lippen
des Gestades wegzureißen.“ (S.51) – ein Begehren zudem, das im fremden
Kulturraum triumphierend auftritt und ob der homoerotischen Natur dieses
Begehrens frei auch von den Schuldgefühlen, die Figaro noch bei dem in
seinem Anliegen vielfach verwandten Dichter Konstantinos Kavafis ein
Jahrhundert zuvor begegnen. |
Aber
dieses Begehren trägt seine Gefährdung vielmehr in sich selbst. Dieses
Verlangen erschöpft sich in seiner Unbedingtheit, sinkt nach kurzer
Ekstase in sich zusammen und fällt unweigerlich dem Vergessen anheim. Oder
in der einprägsamen Bildersprache Forcanos:
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Aber die Leidenschaft, die
nur so kurz gelebt hat,
hat uns zu einem Schiff
gemacht, das in den
Meeresgrund verliebt ist, und
nun erinnere ich mich ihrer, als betrachte ich
langsam
die letzte Luftblase
aufsteigen, die einem Wrack entweicht. („Im Café Sahel von Aleppo“, S.
75)
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Diese doppelte, gegenläufige
Bewegung gehört zum Grundzug dieser Dichtung. Sie ist Aufbruch und
Ankunft, Abflug und Aufschlag und vor allem das Ringen, dieser Dramatik in
der Erinnerung Dauer zu verleihen. |
Wie hält man
die Lust fest?
Immer kehrt der Durst zurück
und fällt uns zur Last.
Vergeblich der Flug der Insekten
gegen den Wind. („Beirut“
S.97) |
Dieses
Ringen mag letztlich vergeblich sein, aber bei Manuel Forcano hinterlässt
es Blüten, die ein wärmend melancholisches Aroma in der Phantasie seines
Lesers hinterlassen. Hören wir noch einmal hinein: |
Und unser einziger Feind
war das Vergessen, das kommen
würde
wie der warme Monsunregen:
(...)
Denn ich erinnerte mich
deiner in Bruchstücken,
unverbunden
wie die Flecken auf den
Hälsen der Giraffen. („Äthiopika“, S.57)
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- Revolte im
Dachgeschoss - |
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Erzählungen aus dem Katalanischen, übersetzt von Gret Schib Torra |
Norderstedt: Books on Demand 2005, 200 S. |
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Die Bekanntschaft
mit Pere Calders war für Figaro eine Entdeckung besonderer
Art. In dieser Sammlung von Kurzgeschichten – 20 an der Zahl
zwischen 2 und 24 Seiten – ist nicht nur unschwer ein Meister
der literarischen Kleinkunst zu erkennen, sondern auch ein
Wegbereiter des grotesk surrealistischen Humors, den Figaro an Sergi Pàmies und Quim Monzó so sehr schätzt. |
Die literarische
Karriere des 1994 im Alter von 81 Jahren verstorbenen Pere
Calders beginnt bereits im mexikanischen Exil, in das er nach
dem Bürgerkrieg ging, wenngleich seine Berühmtheit in
Katalonien erst nach seiner Rückkehr 1962, genauer nach dem
Tode Francos einsetzte. So richtig populär machte den von der
Kritik Hochgelobten 1978 die Theatergruppe Dagoll Dagom, als
sie einige seiner Erzählungen auf der Bühne inszenierte.
Danach wurden seine Werke in mehrbändigen Ausgaben neu
aufgelegt und auszugsweise in zahlreiche Sprachen übersetzt. |
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Nur dem
deutschsprachigen Publikum blieb diese Gunst bis auf sehr wenige Texte in
Anthologien zur katalanischen Literatur lange vorenthalten. Um so
verdienstvoller, dass die Übersetzerin Gret Schip Torra, der wir unter
anderem auch die Übersetzung von Curial y Guelfa (2008), des
ersten Ritterromans auf der iberischen Halbinsel, verdanken, nunmehr
(2005) einen der meist gelesenen Erzähler Kataloniens vorstellt. Und das
gleichsam in Eigenregie bei Books on Demand, weil die kommerziellen
Verlage das finanzielle Risiko gescheut hatten. Ein Bestseller ist aus der
Sammlung so ganz ohne Werbung nicht geworden. Die Liebhaber guter
Kurzgeschichten sollte dieser Umstand gleichwohl nicht davon abhalten,
sich wie Figaro von diesem brillanten Erzähler verzaubern zu lassen. |
„Wenn
es möglich gewesen wäre, das Phänomen von Anfang an zu untersuchen, hätte
man gesehen, dass alles mit einem Streik der Türschlösser und Lichtschalter
begann.“ (S.172) Anfänge wie diese von „Die Rebellion der Dinge“ sind in
dieser Sammlung die Regel. Alles beginnt mit der Feststellung einer (fast)
alltäglichen Begebenheit, bevor das Unvorhergesehene, das Unmögliche in
diese Ordnung einbricht und die vertraute Welt ins Chaos stürzt.
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Oft
kündigt sich solch anarchische Sprengkraft wie hier bereits im
Eingangssatz an. ‚Streik’ ist ja in Bezug auf Dinge allenfalls eine
umgangssprachliche Metapher. Hier aber wird diese Metapher in der Folge
allen Ernstes wörtlich genommen. Die Dinge kündigen ihre Funktion auf und
treten aktiv in Streik – mit unabsehbaren Folgen bis hin zum Verschwinden
jeglicher Kommunikation. |
„Mitten
in der Katastrophe, da alle Federn, Kugelschreiber, Bleistifte und
Schreibmaschinen des Landes (und, wer weiß, des Auslandes) unnütz geworden
sind, habe ich das große Glück, dass meine robuste tragbare
Schreibmaschine durchhält und mir erlaubt hat, von den außerordentlichen
Begebenheiten dieser Tage zu berichten. Ein Glücksfall (vielleicht ein
noch größerer) ist auch die Treue meiner Sekretärin, einer intelligenten,
netten Dame von auffälligem Äußeren, die mich in dieser schlimmen Zeit
begleitet. |
Ich
bemerke eben, dass einige Tasten schwieriger zu drücken sind, wie wenn sie
verklemmt wären. Andere hingegen laufen immer lockerer, wie dahinkollernde
Haselnüsse, worunter das Zeichen für das englische Pfund ist, von dem ich
mich ohnehin frage, wieso man es einbaut. |
Die
Tasten ... da haben wir’s! W13kluu Ich werde nicht mal Zeit haben, um qq&6zz
Zum Glück bleibt mir noch die Sekretäwzyyyutu bb??
Rkjoo ...“ (S.176 f.) |
Dieses
Wörtlich-Nehmen der Metapher, die dann in der Folge detailreich und
präzise ausgeschrieben wird, so als gäbe es nichts Natürlicheres auf der
Welt, ist für Figaro eine geläufige Strategie aus dem Repertoire der
europäischen Groteske. Das Absurde gerät, solcherart plausibilisiert, zum
Alltäglich-Normalen.
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Die
Wirkung dieses grotesken Humors ist ambivalent, erheiternd und
nachdenklich zugleich. Und sie ist von erstaunlicher Bandbreite: Sie
reicht vom amüsierten Lächeln („Tischgespräche“) zu verstörter
Betroffenheit („Revolte im Dachgeschoss“). Gleichviel. Immer aber lassen
diese Erzählungen aus dem brüchig gewordenen Alltag in den Abgrund der
menschlichen Natur schauen. |
Eine
lohnende Lektüre mithin! Wer mehr davon will, muss sich allerdings vorerst
mit dem Blick in deutschsprachige Anthologien zur katalanischen Literatur
begnügen, in Katalanische Erzähler (Zürich: Manesse 1978) oder in
Willkommen in Katalonien (München: dtv 2007). Und er wird weiter
unverzagt darauf hoffen, dass Verleger in Deutschland gelegentlich auch
dann gute, ins Deutsche übersetzte Texte verlegen, wenn sie nicht aus dem
amerikanischen Raum stammen.
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- Das Schweigen der
Bäume - |
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Roman aus dem Katalanischen, übersetzt von Ilse Layer |
München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2004, 136 S. |
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Figaros Stimmung
war nicht die beste, als er dieses Bändchen zur Hand nahm.
Seit Tagen schon schlug er sich mit den Technikern der Telekom
herum. Ohne Internet und Telefon fühlte er sich von der Welt
abgeschnitten. Da kam so ein kurzer Roman eines ihm
unbekannten Autors gerade recht, gleichsam als Zeitvertreib in
der Warteschleife. Doch er hatte sich gründlich geirrt.
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Nach wenigen
Seiten schon war er versunken in einer Welt, die seinen Alltag
nichtig und klein erscheinen ließ, und die zwar irgendwo, aber
doch nur wenige Flugstunden entfernt liegen mochte. Eine
belagerte und zerbombte Stadt, in der verzweifelte Menschen
ausgehungert, verängstigt und orientierungslos wie streunende
Hunde umherirren, kurzum Bilder einer Stadt, wie sie die
Tagesschau Tag für Tag in unsere gute Stube sendet. Nur
diesmal, im Roman Das Schweigen der Bäume - El
silenci dels arbres (2003) von Eduard Márquez,
hinterlassen sie Spuren. |
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Figaros
läppischer Ärger war längst einer tiefen Betroffenheit gewichen, als er
das Buch Stunden später aus der Hand legte, um es gleich am nächsten
Morgen in der Erwartung noch einmal zu lesen, etwas über die Gründe
herauszufinden, die ihn bei der Lektüre dieses Romans so beeindruckt
hatten. |
Die
Verzweiflung der Bewohner in einer zerbombten Stadt allein reicht da wohl
für den Medienkonsumenten unserer Tage nicht mehr aus. Eher schon bürgt
das Thema des Buches für Aufmerksamkeit: Liebe „im Auge des Todes“ (S.
10). Profil gewinnt es in einer dramatischen Geschichte, in deren
Mittelpunkt die Liebesbeziehung zwischen dem berühmten Violinvirtuosen
Andreas Hymer und der begnadeten Pianistin Amela Jensen als Haupthandlung
steht, die zudem von dem Verhältnis von Sophie, einer leidenschaftlichen
Geigerin und Mutter von Andreas, mit dem Geigenbauer Ernest Bolsi als
Nebenhandlung mitbewegt wird. Die Berufe der Haupt- und Nebenfiguren
weisen zudem auf die zentrale Bedeutung der Musik in diesem Roman, für die
Protagonisten wie für die im Inferno der Belagerung Eingeschlossenen.
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Auffällig, dass die Personen an diesem namenlosen Ort Vor- und Zunamen
tragen. Es mag ein Zeichen dafür sein, dass gerade in solch barbarischem
Chaos, in dem das Leben des Menschen keinen Pfifferling mehr wert zu sein
scheint, es auf jeden Einzelnen ankommt, auf seinen Willen durchzuhalten –
für sich und die anderen. So als gebäre die unmenschliche Grenzsituation
auch das Mitmenschliche neu.
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Eine
Lektüre mithin, die uns bar aufgesetzter Sentimentalitäten gestärkt
zurücklässt. Davor bewahrt schon die Anlage des Buches, dessen Ende uns an
seinen Anfang zurückführt: an den Start des Flugzeugs, das Andreas Hymer
aus der belagerten Stadt wieder ausfliegt, in die er für ein
Solidaritätskonzert geflogen war. Wird er, kann er je in seine Heimatstadt
zurückkehren zu denen, die ihm lieb und wert sind? Diese Frage und damit
auch der Fortgang der Liebesgeschichte bleibt offen. Letztlich liegt der
Fokus hier nicht eigentlich auf der Geschichte, sondern vielmehr auf dem
Aufweis psychischer Veränderungen, die die Grenzerfahrung in den
Protagonisten bewirkt.
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Daher
wohl auch die zirkuläre Anlage des Romans. Der erzwungene Stillstand in
dieser Ausnahmesituation konfrontiert die Protagonisten immer neu mit
ihren Erinnerungen aus der Zeit vor der Belagerung, die umso drängender
empfunden werden, als der zerbröckelnde Putz von den Wänden dem Schmerz
über das verlorene Glück neue Nahrung zu geben scheint (S.43). So baut
sich für den Leser die Geschichte der Protagonisten erst über solche mit
der Ereignisebene kollidierenden Erinnerungsmomente ganz allmählich auf.
Da sie zudem aus wechselnden Perspektiven zeitlich versetzt ineinander
geblendet werden, entsteht ein mise-en-abyme-Effekt, der Figaro aus dem
nouveau roman vertraut ist. Eine Erzählstrategie, die das Lesen zu
einer überraschenden Entdeckungsreise auch ins Innere der Personen macht.
|
Ein
Beispiel nur. Als Amela Jensen gedankenverloren vor ihrem Klavier sitzt,
klopft es an ihrer Tür. Sie lauscht und wartet. Der Text aber springt
übergangslos in die Zeit vor der Belagerung, als sie frisch verliebt im
Hotelzimmer mit Andreas Hymer das Klopfen des Zimmerservice hört: |
Andreas
Hymer springt flink aus dem Bett, hebt das Laken vom Boden auf, deckt sie
zu und legt sich lachend wieder neben sie. (...) Als sie wieder allein
sind, schlägt Andreas Hymer das Laken zurück und fährt fort, sie zu
streicheln. Ohne Hast. Im Rhythmus ihres Atems erkundet er ihren Körper
mit der Begierde des Wassers oder des Windes. Er küsst sie. (...)
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Erneut klopft es an die
Tür.
Amela Jensen begibt sich
in den Flur und öffnet. Als sie Andreas Hymer erkennt, verzieht sie
verärgert das Gesicht.
„Du konntest einfach nicht
anders, stimmt’s? Du musstest es mit deinen eigenen Augen sehen ...“
Andreas Hymer weiß nicht,
was er tun soll. Der Rollstuhl setzt ihn außer Gefecht.(...) (S.50 f.)
|
Der
Anblick des Rollstuhls, der auch den Leser überrascht, ist für Andreas
Hymer ein Schock. Amela Jensen war in seiner Abwesenheit Opfer eines
Bombeneinschlags geworden, der der angehenden Mutter nicht nur ihre
Gesundheit, sondern auch ihr Baby geraubt hatte. Dabei war er in der
Hoffnung gekommen, die Geliebte von einst doch noch zu überzeugen, ihn auf
dem Solidaritätskonzert auf dem Klavier zu begleiten, obwohl er sie damals
aus Sorge um seine Karriere verlassen hatte, freilich ohne zu wissen, dass
sie von ihm schwanger war. Ein äußerst schmerzhaftes Wiedersehen mithin,
das beiden gleichwohl hilft, sich ihrer Gefühle füreinander von Begegnung
zu Begegnung klarer zu werden.
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Ein
dynamischer Prozess der Bewusstwerdung, an dem der Leser insofern aktiv
teilhat, als diese Erzählstrategie ihn die Fäden der inneren
Handlungsführung selbst zusammenfügen lässt. Oder anders: die Lust an der
Lektüre steigt mit dem Grad seiner Anteilnahme. Für Figaro jedenfalls war
sie groß genug, sich auch den Erstlingsroman des 1960 in Barcelona
geborenen Autors Eduard Márquez Cinc nits de febrer (2000) zu
bestellen, der seit 2005 auch auf Deutsch unter dem Titel Im Schutz der
Nacht im dtv-Verlag vorliegt.
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aus dem Katalanischen übersetzt und eingeleitet von Isabel Müller |
Berlin: Lit-Verlag 2009 (Katalanische
Literatur des Mittelalters 2) 235 S. |
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Wer kennt es
nicht, das Bedauern, die Lektüre eines guten Buches aus
Zeitmangel wieder einmal hintanstellen zu müssen? Wie viele
Titel, Eintagsfliegen oder Klassiker gleichviel, diesem
(wohlfeilen) Argument dann im Laufe eines Lebens zum Opfer
fallen! Indes mit den Jahren verliert dieses Argument des
Zuwartens seine Überzeugungskraft, wird leicht zum bloßen
Vorwand für das eigene Desinteresse. |
Für den Ruhestand
hatte Figaro sich daher vorgenommen, diese (vermeintliche)
Bringschuld zumal gegenüber einem wenn auch noch so
angestaubten bürgerlichen Bildungskanon ein klein wenig
abzubauen. Mit der Entdeckung der vorliegenden zweisprachigen
Anthologie der Gedichte des Katalanen Ausiàs March bot sich
ihm die ideale Gelegenheit, diesen löblichen Vorsatz
einzulösen. |
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Schließlich war ihm der Name dieses valencianischen Hofdichters nicht zum
ersten Mal begegnet. Ein klangvoller Name allemal, führten Kenner ihn doch
unter den bedeutendsten Autoren des romanischen Mittelalters, als
Wegbereiter auch einer neuen Lyrik im 15. Jahrhundert. Ausiàs March
endlich auch auf Deutsch, wenn auch nur in Übersetzung, nicht als
Nachdichtung, aber immerhin! Diesmal hat Figaro die Chance zur
Eigenlektüre eines Klassikers sofort genutzt und nicht bereut. Im
Gegenteil! |
Vor allem die „Liebesdichtung“
hat es ihm dabei angetan, die auch den größten
Raum in dieser Anthologie einnimmt. Frühe Spielarten von Fifty
Shades of Grey oder den Feuchtgebieten sollte man hier freilich
nicht erwarten, eher schon Topoi von Frauenlob und Frauenschelte. Und so
verwundern die auffälligen Spuren des Topos von der „Schönen Spröden“, der
im Hochmittelalter in ganz Europa so beliebten Belle dame sans merci,
denn auch nicht weiter. Auffällig ist dagegen das Zurücktreten der Minne
an der schönen „fernen Herrin“, der dama lontana der okzitanischen
Troubadoure wie das der Idealisierung der Schönen als Erzieherin im
dolce stil nuovo der Florentiner, der Erlöserin Beatrice etwa in der
Vita nova von Dante.
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Dabei
folgt Ausiàs March freilich dem von den
Italienern geöffneten Weg der Introspektion und markiert so eine Wegmarke
des lyrischen Sprechens auf der iberischen Halbinsel. Die
widersprüchlichen Empfindungen beim Anblick der Schönen rücken hier in den
Mittelpunkt, der Widerstreit zwischen dem sinnlichen Begehren und dem
Streben nach dem Ideal eines tugendhaften Lebens und Liebens. Dieser
Konflikt wird geradezu zum Grundthema seiner Lyrik, das er im Lichte der
aristotelisch-scholastischen Wissenschaft und Medizin seiner Zeit in immer
neuen Anläufen analysiert. Ein im Horizont der damaligen Erklärungsmuster
von der körperlich-seelischen Doppelnatur des Menschen wahrlich
unaufhebbarer Konflikt. Gerade die Ausweglosigkeit dieser Selbstanalyse
treibt indes die moralische Dimension der Liebe immer neu hervor.
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Dieses
Schaukeln zwischen dem unentrinnbaren sinnlichen Begehren der amor
bestial und dem uneinlösbaren Verlangen nach Bestand und Sittlichkeit
der amor espiritual oder honest macht denn auch den Reiz
dieser Liebeskasuistik aus. Unter diesem Vorzeichen wird der amor mixte
zum einzig erreichbaren Ziel des Liebenden, einer Liebe, die an beiden
Naturen des Menschen, seinem Körper wie seiner Seele, teilhat, einer
Schaukel zwischen widerstreitenden Empfindungen und Handlungen gleich.
„Diese Liebe ist nicht engelgleich, denn sie richtet sich stärker nach dem
Körper als nach der Seele; sie trägt den Namen dessen, an dem sie
stärkeren Anteil hat; ihre Kraft ist groß, denn sie umfasst den Menschen
als Ganzen.“ - so lesen wir in der Kanzone CXXIII. (Aquesta
amor no és angelical,/ ans més al cos que a l’arma ha son esguard;/ diu-se
d’aquell del qual pren major part,/ sa força és gran com toca en general.”
CXXIII, 25-28, S.144) |
Als
Figaro Stunden später diese Liebesdichtung wieder aus der Hand legt, ist
seine alte Liebe für mittelalterliche Literatur neu erwacht. Und dank der
im Lit-Verlag 2008 mit Curial Güelfa eröffneten Reihe „Katalanische
Literatur des Mittelalters“ kann er endlich auch bequem Zugang finden zu
jenem Garten der europäischen Literatur, der ihm der Sprache wegen bislang
verschlossen war. Eine sicherlich lohnende Erfahrung, wenn wir Ausiàs
March zum Maßstab nehmen dürfen.
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* ARTÀ
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Mallorca * ArtÀ
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Mallorca * ArtÀ
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Mallorca * |
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